Insa Bruns, Berlin
Wie man sich verschätzen kann
Sommer 1992 – ich fahre für vier Wochen zu Freunden, die in Conakry/Guinea in einem Entwicklungshilfeprojekt arbeiten. Der Urlaub stellt die Zäsur zu einem neuen Abschnitt in meinem Arbeitsleben dar, denn wenn ich wiederkomme, werde ich in der klinischen Forschung den Bereich HIV übernehmen, der bei Glaxo Deutschland neu eingerichtet wird – wie aufregend meine Arbeit zukünftig sein wird, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Gewidmet einem Berliner Patienten.
Die besondere Bedeutung des neuen Aufgabengebiets sollte mir bereits in Guinea bewusst werden – einem der wenigen afrikanischen Länder, in dem zu dieser Zeit verhältnismäßig offen mit der Problematik HIV und AIDS umgegangen wurde: Immer wieder begegnete mir auf Straßenplakaten und im Fernsehen der Begriff SIDA, das französische Wort für AIDS. Verstärkt wurde dieser Eindruck des Besonderen, als ich nach dem Urlaub das erste Mal auf einem HIV-Kongress, dem Welt-Aids-Kongress, in Amsterdam war. Ich war vorher für Asthma-Studien zuständig, ein Indikationsbereich mit geordneter Studienwelt.
Schon auf dem Weg in das Kongress-Gebäude beeindruckten die Gruppen der HIV-Aktivisten mit ihren Forderungen. Und auch die Planungen des Unternehmens für die Standbetreuung (Was ist zu tun im Falle einer Besetzung des Stands durch Aktivisten?) und die Sprachregelungen (Wer darf sich öffentlich äußern?) für Interviews auf dem Kongress waren so ganz anders als alles mir bisher Bekannte.
Es gab zu dieser Zeit nur ein Medikament, das für die Behandlung von HIV zugelassen war – AZT. Umso größer war das Interesse an Wirkstoffen zur Behandlung von HIV, die sich bei den pharmazeutischen Unternehmen in der Entwicklung befinden. Eine solche mögliche Alternative oder Behandlungsergänzung zu AZT war Lamivudin, kurz 3TC, das Medikament, an dem Glaxo zu diesem Zeitpunkt forschte. Die Ergebnisse der ersten Phase II/III-Studien, an denen auch die deutsche Niederlassung beteiligt war, ließen Hoffnung aufkommen. Welche Dimension das allerdings haben würde und welchen Einfluss auf mein Arbeitsleben, war zu dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse größerer Studien nicht absehbar.
Aufgrund der schlechten medikamentösen Versorgungssituation der Patienten war es selbstverständlich, dass, sofern ein Medikament sich in den Studien als wirksam und verträglich erwiesen hatte und sich verhältnismäßig unproblematisch herstellen ließ (was bei den später entwickelten Protease-Inhibitoren zu dem damaligen Zeitpunkt ein Problem darstellte), den Patienten im Anschluss an die Teilnahme an einer kontrollierten Studie die Möglichkeit einer Weiterbehandlung im Rahmen eines Expanded-Access-Programms (EAP-Programm) gegeben wurde. Dies galt auch für Glaxo. Die Weiterversorgung früherer Studienpatienten wurde im Rahmen einer offenen Follow-up-Studie geplant. Daneben sollte das Programm aber auch Patienten eine Behandlungsmöglichkeit eröffnen, die zwar bisher an keiner Studie teilgenommen hatten, die aber austherapiert waren und aufgrund ihrer Anamnese auch nicht für laufende kontrollierte Studien in Frage kamen – für die es also keinerlei andere Möglichkeiten als solche EAP-Programme gab.
Um eine Abschätzung zu erhalten, wie viele Patienten im Rahmen des 3TC-Programms versorgt werden müssten, besprachen wir uns mit verschiedenen, in Deutschland zu dem Zeitpunkt führenden HIV-Spezialisten: 50 Patienten sollten wir planen, mehr würden wir wohl in Deutschland nicht in das EAP-Programm einschließen – so die Schätzung. Diese Zahl gaben wir auch an die Zentrale zur Planung weiter. Wie sehr diese Zahl an der späteren Realität vorbeigehen sollte, hatte keiner zu Beginn des Programms auch nur annähernd geahnt.
Die Medikamentenversorgung für die offene Follow-up-Studie in ganz Europa übernahm eine Kontraktorganisation – die Versendung an die Zentren erfolgte nach Autorisierung durch die Mitarbeiter der Glaxo-Niederlassungen der einzelnen Länder. Um eine Bewilligung erteilen zu können, mussten zuerst die Voraussetzungen für den Einschluss der Patienten auf der Basis der durch die behandelnden Ärzte eingesandten Informationen geprüft werden. Ein einfaches Unterfangen bei Patienten aus früheren Studien, schwieriger jedoch bei Patienten, die zuvor nicht an einer 3TC-Studie teilgenommen hatten, für die aber keine anderen Therapiemöglichkeiten mehr bestanden.
Und für Patienten, die weder zuvor an einer Studie teilgenommen hatten, noch die Voraussetzungen für den Einschluss in das Programm erfüllten, bildete ein Heilversuch die einzige Alternative – die aufwendigste der Möglichkeiten, da der Arzt die Notwendigkeit der Behandlung seitenweise begründen und unter anderem ich dies anschließend genauestens prüfen musste.
Schon kurz nachdem das Programm angelaufen war, ließ sich ahnen, welches Ausmaß das Programm annehmen könnte und wie weit die Schätzung von der Realität entfernt sein würde.
Auf und neben meinem Schreibtisch bildeten sich mehrere, für Außenstehende nicht ersichtlich geordnete Stapel mit Anfragen, Informationen, Medikamentenanforderung und vielem mehr. Ich wusste jedoch genau, welcher Vorgang sich in welchem Stapel befand, um bei Anrufen den Vorgang sofort zuordnen zu können. Der erste Gang an jedem Morgen war der zum Faxgerät, denn die Anforderungen kamen zu dieser Zeit noch per Fax. Darüber hinaus gingen Meldungen über unerwünschte Ereignisse per Fax ein.
Die Zahl der Anrufe, die sich ausschließlich auf das Follow-up-Programm bezogen, das nicht die Hauptaufgabe meiner Tätigkeit war, stieg auf 40-50 Telefonate pro Tag. Mein Gedächtnis vollzog eine erstaunliche Wandlung, wahrscheinlich aus reinem Selbsterhaltungstrieb: Mir, die ich normalerweise extreme Schwierigkeiten hatte, mir Namen zu merken und teilweise schon nach einer halben Stunde wieder nachfragen musste, gelang es, dem Namen der Anrufer das Zentrum, den leitenden Oberarzt und den Patienten, um den es Tage zuvor gegangen war, in Sekundenschnelle zuzuordnen. Leider hat sich diese wunderbare Fähigkeit nach Beendigung des Programms wieder verflüchtigt.
Hinzu kamen zahlreiche Telefonate mit Patienten, die sich direkt mit den Unternehmen in Verbindung gesetzt haben, wenn es beispielsweise Probleme in der Versorgung mit der Medikation am Zentrum gab. Auch Telefonate mit besorgten Angehörigen, die vielleicht einfach manchmal nur offen über ihre Ängste sprechen wollten sowie Telefonate mit Kassen, die der Auffassung waren, dass das Unternehmen auch die anderen Behandlungen und Untersuchungen der Patienten und nicht nur die Versorgung mit 3TC bezahlen sollten, gestalteten den Tagesablauf mit.
Am Ende haben wir annähernd 1.500 Patienten im Rahmen des Programms mit 3TC versorgt – das 30fache der ursprünglichen Schätzung! Zu dieser großen Zahl hat sicher die zum Teil schlechtere Verfügbarkeit anderer Alternativen beigetragen, die aufgrund eines komplexen Herstellungsprozessen nur einer kleinen Patientenzahl zugänglich gemacht werden konnten. Beigetragen dazu hat aber sicher auch, dass die betroffenen Patienten über die AIDS-Hilfe bzw. Selbsthilfegruppen und eigene Fachjournale über alle Studienergebnisse informiert waren, und sich gegenseitig Empfehlungen gaben. Und letztendlich auch die Offenheit der in dem Bereich tätigen Unternehmen, die bereit waren, alle wichtigen Daten zu laufenden Studien und Programmen einschließlich der teilnehmenden Zentren, Rekrutierungsstatus etc. in einem Register beim Robert Koch-Institut zu veröffentlichen, um behandelnden Ärzten und Patienten darzustellen, wo ggf. Behandlungsmöglichkeiten existierten.
Als kleines Follow-up-Programm begonnen, hat das Programm letztendlich meinen ganzen Arbeitstag bestimmt. Entschädigt wurde ich allerdings durch das unmittelbare Gefühl, eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, das Bewusstsein, helfen zu können und dass von der eigenen Tätigkeit etwas abhängt – ein Gefühl, wie ich es so unmittelbar bisher nie wieder in anderen Gebieten erfahren habe.
Insa Bruns, Berlin
Insa Bruns, Diplom-Biologin, arbeitete von 1987 bis 1999 in der klinischen Forschung bei Glaxo, später Glaxo Wellcome.
Nachdem sie mehrere Jahre im Referat Forschung und Entwicklung eines Pharmaverbands tätig war, leitet sie seit 2004 die Geschäftsstelle des Netzwerks der Koordinierungszentren für Klinische Studien (KKS-Netzwerk), einem Verbund universitärer Zentren.