Dr. Jörg Gölz, Berlin
Ein kleines Mädchen bricht medizinische Ideologie
Ab 1984 wurde mit der Einführung kommerzieller HIV-Tests das Ausmaß der HIV-Epidemie bei Drogenabhängigen sichtbar: In Berlin waren in manchen Drogenberatungsstellen bis zu 80% der heroinabhängigen Klienten HIV-infiziert. Damit begann die Suche nach Ärzten, die zur Substitutionstherapie bereit waren und sich auch nicht von HIV abschrecken ließen.
Ich begann im Sommer 1986 in Berlin-Charlottenburg unweit vom Bahnhof Zoo meine Arbeit als niedergelassener Allgemeinarzt. Unter den Patienten, die ich in der Praxis vom Vorgänger übernommen hatte, waren auch vierzehn HIV-infizierte Patienten. Sie fragten mich fast alle, ob sie trotz ihrer HIV-Infektion in der Praxis weiterbehandelt werden könnten. Sie hatten also die Erfahrung gemacht, mit dieser Diagnose den behandelnden Arzt wechseln zu müssen. Sie brachten weitere HIV-Infizierte aus ihrem Bekanntenkreis in die Praxis. So entwickelte sich rasch ein Schwerpunkt für HIV-Infizierte. Darunter war zunächst kein Drogenabhängiger.
Durch einen Zufall wurde in der Berliner AIDS-Hilfe bekannt, dass ich aus meiner Zeit als Kinder- und Jugendpsychiater in der stationären Behandlung von Heroinabhängigen Erfahrungen besaß.
Damit wurde ich zu einem bevorzugten Ziel auf ihrer Suche nach suchttherapeutisch kompetenten Ärzten. Im November 1987 stellte sich ein Sozialpädagoge der Berliner AIDS-Hilfe bei mir vor. Er war dort verantwortlich für HIV-infizierte Drogenabhängige und er suchte dringend Ärzte mit HIV-Erfahrung, die bereit waren, infizierte Drogenkonsumenten zu substituieren, damit bei ihnen wenigstens die opportunistischen Infektionen behandelt werden könnten. Zunächst biss er bei mir auf Granit. Erstens wollte ich nach meinen enttäuschenden Erfahrungen mit der stationären Abstinenztherapie in meiner Praxis keine Drogenkonsumenten mehr behandeln. Zweitens war ich ganz dem schulmedizinischen Abstinenz-Dogma verhaftet. Die Verordnung von Opiaten an Opiatabhängige war für mich ein ärztlicher Kunstfehler und nur in extremen medizinischen Notsituationen kurzfristig gerechtfertigt.
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In unserem ersten Gespräch hatte ich ihm meine Sicht der Dinge nachdrücklich dargestellt. Es entspann sich ein längerer Schlagabtausch: Auf der einen Seite wurde mit den guten Substitutionserfahrungen in den USA argumentiert, auf der anderen Seite brachte ich alle Argumente der Abstinenzideologie zur Sprache. Seltsamerweise ließ er trotzdem nicht locker. Um das Patt unserer Argumente zu überwinden, führte er die Lebenswirklichkeit ein. Er stellte mir in den folgenden Tagen in meiner Praxis eine HIV-infizierte Frau vom Drogenstrich vor, die nebenbei zur Geldbeschaffung auch Pelzmäntel aus Kaufhäusern stahl. Sie hatte eine verwahrloste 5-jährige Tochter bei sich, die im November angezogen war, als sei Hochsommer. Söckchen hatte sie nur an einem Bein. Die Frau hatte schon erfolglos mehrere Langzeittherapien durchgemacht. Das Mädchen war gar nicht in der realen Welt aufgewachsen, sondern hatte zweieinhalb Jahre ihres kurzen Daseins in der virtuellen Welt abstinenzorientierter Mutter-Kind-Einrichtungen verlebt. Die ausweglose und medizinisch gefährliche Lage dieser Frau war offensichtlich durch eine weitere Abstinenztherapie nicht zu heilen. Das Mädchen kam an meinen Stuhl, fasste meinen Oberschenkel an und fragte: „Hilfst du der Mama?“ Ich stellte mir meine eigenen Töchter in solch einer Lage vor. Nach einer schlaflosen Nacht entschloss ich mich am nächsten Tag in diesem e i n e n Fall zu dem Versuch einer Opiatverschreibung, da ein schnelles Fortschreiten der HIV-Infektion drohte und für das Kind über kurz oder lang der Verlust der Mutter durch Inhaftierung.
Ohne den Druck der HIV-Epidemie hätte es den suchttherapeutischen Paradigmenwechsel nicht gegeben. Deutschland ist heute eines der erfolgreichsten Länder bei der Eindämmung der HIV-Epidemie unter Drogenkonsumenten. Das ist das Resultat dessen, dass unter den 75.000 substituierten Drogenabhängigen sich fast alle 8.000 HIV-Infizierten dieser Gruppe befinden. So kommt es auf der offenen Drogenszene bei 180.000 Drogenkonsumenten nur noch zu 150 neuen Ansteckungen pro Jahr. Vergleichbare Ergebnisse gibt es nur noch in den Niederlanden und Australien, wo von Beginn der HIV-Epidemie rigorose harm-reduction-Programme für Drogenabhängige etabliert wurden.
Auf eindrucksvolle Weise bestärkte mich die Entwicklung dieser Frau unter der Substitution dann darin, die neue Therapieoption weiter zu verfolgen. Befreit vom Straßenstrich und den Diebeszügen war die Frau wieder in der Lage, ihren sozialen Verpflichtungen nachzukommen. Sie selbst und ihr Kind waren zunehmend gepflegter. Mit Hilfe der psychosozialen Betreuung gelang es, ihr neue Wohnverhältnisse und eine finanzielle Basisversorgung zu organisieren. Sie konnte sich von ihrem ebenfalls drogenabhängigen Partner lösen, da sie ihn nicht mehr während der Stunden auf dem Strich als Versorger des Kindes benötigte. Sie war in der Lage, die Medikamente zur Primärprophylaxe opportunistischer Infektionen regelmäßig einzunehmen. Ohne den Stress der Prostitution und der Drogenbeschaffung besserte sich auch ihr Immunstatus erheblich. Schließlich wurde sie wieder dauerhaft als Sekretärin berufstätig. Das hatte ich nicht für möglich gehalten. Nach dieser eindrucksvollen Erfahrung mit einer vorher strikt abgelehnten Therapie begann ich weitere HIV-infizierte Drogenabhängige zu substituieren.
Rasch holte mich auch die andere Wirklichkeit ein: Von der Opiumstelle wurde ich schriftlich gewarnt: Man schrieb mir, dass ich durch die Verordnung sehr großer Opiatdosen an einzelne Personen in Verdacht geraten sei, Drogenabhängige mit Opiaten zu versorgen. Dieses ärztliche Verhalten könne zum Entzug der Approbation führen. Die Prohibition versuchte also bis in die Arztpraxis hinein zu regieren. Das wollte ich mir nicht gefallen lassen. Hier begann mein langjähriger Kampf darum, die Substitutionstherapie als gleichwertige Behandlung neben der Abstinenztherapie zu etablieren. Diese Auseinandersetzung bestimmte über viele Jahre mein weiteres berufliches Leben, obwohl ich am Anfang nichts damit zu tun haben wollte.
Die Patientin ist heute eine 60jährige Frau und immer noch mit Opiaten substituiert. Zunächst hat die Substitution sie bis 1996 überleben lassen. Dann gab es eine wirksame antiretrovirale Therapie. Das Mädchen von damals ist heute eine 29jährige Frau, hat nach der Schulausbildung eine Lehre im Hotelgewerbe absolviert und arbeitet heute als Veranstaltungskauffrau. Im Jahr 2007, als die Mutter nach einer nicht autorisierten und verheimlichten Therapiepause eine zerebrale Toxoplasmose entwickelte und längere Zeit geistig nicht mehr voll zurechnungsfähig war, übernahm die Tochter vorübergehend die Vormundschaft über ihre Mutter und leitete sie wieder in ein selbstbestimmtes Leben zurück. Hier schloss sich also der Kreis der Generationen: Die wechselseitige Übernahme von Verantwortung füreinander.
Dr. med. Jörg Gölz, Berlin · Facharzt für Allgemeinmedizin · Infektiologe (DGI) · Suchtmedizin
Jörg Gölz studierte Humanmedizin in Tübingen. Nach einer kinder- und jugendpsychiatrischen Ausbildung schloss er eine allgemeinmedizinische Ausbildung an. Er ließ sich 1986 als Allgemeinarzt in Berlin nieder und spezialisierte sich auf Suchtmedizin, HIV/AIDS und Virushepatitiden. Seit 1995 arbeitet er im Praxiszentrum Kaiserdamm, einer fachübergreifenden Gemeinschaftspraxis für HIV/AIDS, Hepatitis und Suchtmedizin.