Prof. Dr. rer. nat. Helga Rübsamen-Schaeff, Wuppertal
HIV: Das Erkennen einer erschreckenden Vielfalt
Die Universitätsklinik lag direkt hinter dem Georg-Speyer-Haus und betreute die ersten AIDS-Patienten. Ich ging hin und fragte nach. Prof. Eilke Brigitte Helm berichtete mir, dass verschiedene Patienten sehr unterschiedliche Ausprägungen der Krankheit hatten, und vermutete „mehr als ein Virus“ hinter diesen Krankheitsbildern.
Mein Mitarbeiter Hagen von Briesen und ich beschlossen, aus Blutproben von Patienten mit unterschiedlichen Krankheitsbildern diese Viren zu isolieren und ihre Eigenschaften zu vergleichen. Zunächst versuchte er, die vom Labor Gallo veröffentlichte Isolierungsmethode nachzuarbeiten – über Monate ohne Erfolg! Diese Methode benutzt eine Tumorzelle als Wirtszelle und nicht frische Zellen.
HIV in der Zellkultur
Erst als wir frische Zellen aus Blutspenden nutzten und sie mit dem Blut AIDS-Kranker kultivierten, gelang der Durchbruch: Wir hielten die ersten deutschen HIV-Isolate in der Hand – und Frau Prof. Helm hatte recht: Sie waren alle unterschiedlich! In einer Kultur entwickelten sich dicke Blasen aus miteinander verschmolzenen Zellen und die Zellen starben über Nacht. Die Kultur eines anderen Patienten lebte dagegen 14 Tage, ohne dass man den Zellen ansah, dass sie HIV beherbergten. Das war schon biologisch ein Paukenschlag – es gab nicht „ein HIV“! Hagen von Briesen und ich sind damals erschrocken und verschärften die Sicherheitsmaßnahmen im Labor.
Wir wollten natürlich auch wissen, wie weit sich das Erbgut unserer Viren untereinander und vom ersten Isolat (LAV genannt) der Franzosen unterschied. Die Aufklärung der genetischen Unterschiede gelang in Kooperation mit Dr. Karsten Henco von der damaligen Diagen (heute Qiagen): Unser Virus „D31“ besaß nicht nur ein Erbgut, das sich von dem in Frankreich isolierten Virus erheblich unterschied, sondern auch in dem Patienten Nr. 31 waren unterschiedliche Virus-Klone vorhanden. Und das Virus eines anderen Frankfurter Patienten, D34, hatte wiederum ein Erbgut, das sich von dem Isolat „D31“ deutlich unterschied (J. Med Virol. Nr. 19 und 23).
Allerdings glaubte man mir nicht, wenn ich diese Ergebnisse auf deutschen Kongressen vortrug. Die Kollegen waren überzeugt, dass HIV nicht variabel sei, sie sähen dieses Phänomen nicht. Der Grund war, dass sie alle mit einem einzigen Virusstamm arbeiteten, den der amerikanische Forscher Gallo ihnen gegeben hatte und der – wie sich später herausstellte – von dem ersten französischen Isolat abstammte. Sie konnten also die Variationsfähigkeit nicht erkennen, weil sie alle mit demselben Virus aus einem Patienten arbeiteten.
Glücklicherweise traf ich auf einem Kongress Françoise Barré-Sinoussi. Sie hatte auch weitere Virus-Isolate gewonnen und auch sie waren alle unterschiedlich. Sie erzählte mir ferner von einem schwedischen Team um Asjo und Fenyo, das ähnliche Beobachtungen gemacht hatte.
Damit war klar, dass es in der AIDS-Forschung mit der Isolierung des ersten Virus in Frankreich nicht getan war, sondern dass es sich um einen hoch-variablen und damit schwer zu kontrollierenden Erreger handelte. Dies bedeutete für mich aber auch, dass es schwer oder unmöglich werden würde, einen Impfstoff gegen ein solch variables Virus zu entwickeln, und ich wandte mich deswegen mit meiner Arbeitsgruppe der Entwicklung von Diagnostika und von Testsystemen zu, die die Entwicklung von Medikamenten erlauben würden. Es kam zu einer Kooperation mit den Firmen Abbot, Hoechst und Bayer.
In der Folgezeit lernten wir, dass HIV sehr unterschiedliche Zielzellen befallen kann, dass es auch in der Hirn-Rückenmarksflüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) vorkommt und neurologische Erkrankungen bedingen kann. Die Franzosen isolierten den 2. Haupttyp von HIV: HIV-2. Kurz danach gelang es uns, aus einem Patienten aus Gambia, der am Kreiskrankenhaus in Lüdenscheid betreut wurde, ein anderes HIV-2 zu isolieren, das sehr gut auf einer Zellart wuchs, die man Makrophagen nennt und die in allen Geweben vorkommen. Auch HIV-2 war damit sehr variabel (Proceedings of the National Academy of Sciences USA Band 86, Nature Band 342).
Kurz vor Weihnachten 1990 erreichte mich ein Anruf aus dem Goethe-Institut in Bombay. Es gäbe den ersten AIDS-Kongress in der Stadt, ich solle bitte kommen und vortragen. Ich war überrascht, denn zu der Zeit hatte ich nicht gehört, dass es auch in Indien AIDS gäbe. Die Leiterin des Goethe-Instituts, Frau Wiegand-Kanzaki sagte aber, sie kenne Ärzte, die davon überzeugt seien. Ich flog also nach Bombay und ging mit ihr in das Krankenhaus. Die Patienten erinnerten mich an das klinische Bild, das ich in Frankfurt gesehen hatte, und ich bat um Blutproben. Die Untersuchung dieser Proben bewies, dass HIV-1 Indien 1990 schon erreicht hatte. Zu unserer Überraschung fanden wir auch Antikörper gegen HIV-2 in diesen Proben (Lancet Band 337). Ferner war das indische HIV-1 dem deutschen wiederum genetisch sehr unähnlich und am ehesten verwandt mit einem Virus aus Südafrika. Wir hatten also einen weiteren Subtyp von HIV-1 entdeckt. Heute wird er Subtyp C genannt.
Weltweit wurden große Anstrengungen unternommen, trotz der Variabilität einen Impfstoff gegen HIV herzustellen. Die Weltgesundheitsorganisation rief ein Netzwerk von kooperierenden Labors ins Leben, das aus Proben aus der ganzen Welt die Viren isolierte und sie genetisch charakterisierte. Das Georg-Speyer-Haus war dabei unter meiner Leitung die zentrale Stelle, die die Viren züchtete und biologisch charakterisierte.
Bis heute ist es nicht gelungen, einen gegen die Infektion sicher schützenden Impfstoff herzustellen. Die Schlussfolgerung aus der Erkenntnis der hohen Variabilität war also richtig. Die Medikamentenentwicklung war dagegen sehr erfolgreich und die HIV-Infektion hat sich von einem Todesurteil zu einer über viele Jahre behandelbaren Krankheit gewandelt. Nach wie vor gelingt es aber nicht, das Virus wieder aus dem Organismus zu eliminieren, und eine lebenslange, chronische Therapie ist vonnöten. Auch sind viele der Patienten trotz guter Unterdrückung des HIV nicht wirklich gesund, sondern leiden unter einer chronischen Entzündung, die mit diversen Beeinträchtigungen von Organsystemen einhergeht. Sie sind „älter“ als vergleichbare Personen, die nicht HIV-infiziert sind. Der Grund ist vermutlich ein relativ unbekanntes Virus aus der Herpes-Gruppe, das humane Cytomegalievirus. Nicht alle HIV-Patienten können es gut unterdrücken und es ist selbst ein Virus, welches immun-suppressiv wirkt.
In der AIDS-Forschung bleibt also noch viel zu tun. Die Erfolge der Therapie beweisen aber auch die Leistungsfähigkeit moderner Forschung.
Prof. Dr. rer. nat. Helga Rübsamen-Schaeff
Geschäftsführerin der AiCuris GmbH & Co. KG, Wuppertal
Helga Rübsamen-Schaeff studierte Chemie und promovierte 1973 an der Universität Münster. Nach der Habilitation arbeitete sie zunächst am Paul-Ehrlich-Institut und war anschließend von 1987 bis 1993 geschäftsführende Direktorin des Chemotherapeutischen Forschungsinstitutes Georg-Speyer-Haus in Frankfurt. Von 1994 bis 2001 leitete sie die Virusforschung der Bayer AG und 2004-2005 die gesamte Infektionsforschung der Firma. Seit 1988 ist sie Professorin für Biochemie und Virologie an der Universität Frankfurt. Im Jahr 2006 übernahm sie als CEO die Leitung der AiCuris GmbH.