Guido Vael, München
Ich verlange Respekt!
Als ein Jahr später, am 6. Juni 1983, im Spiegel die Titelgeschichte „Tödliche Seuche AIDS – Die rätselhafte Krankheit“ erschien, war ich mehr als beunruhigt. Der Artikel, der zunächst sachlich erschien, suggerierte aber auch, dass der „Lebenswandel“ homosexueller Männer moralisch verwerflich und Ursache der Krankheit wäre. Einige Zitate zur Verdeutlichung:
DER SPIEGEL 23/1983
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- Werbung für Homo-Treffpunkte: monströser Markt.
- West-Berliner Homo-Szene: Durchseuchungsgrad erhöht.
- Wenn der AIDS-Erreger, wie zu vermuten ist, durch Blut und/oder Körperflüssigkeit weitergegeben wird, dann hat er es unter Homosexuellen besonders gut: Nur weibliche Prostituierte bringen es auf mehr intime (Schleimhaut-)Kontakte.
- Tausend Intimpartner – tausend verschiedene – innerhalb von drei Jahren gelten bei den amerikanischen AIDS-Ärzten keineswegs als Spitzenleistung. Unter den Patienten sind Männer, die im gleichen Zeitraum dreitausend Partner hatten.
Die „Gleichsetzung“ von schwulem Sex mit Prostitution und die abstruse Zahlenangabe der Sexualpartner (ein bis drei pro Tag als Mittelwert!) oder Begriffe wie Lustseuche oder Schwulenpest, die wir dann häufiger zu hören bekamen, empfand ich als Angriff auf unseren Lebensstil: Schwulsein als Ursache einer lebensbedrohlichen Krankheit.
Ich hatte Angst. Kam da eine Art Pogromstimmung auf uns zu?
Wir, schwule Männer, reagierten verantwortungsvoll und gründeten AIDS-Hilfen. Bereits im September 1983 entstand die Deutsche AIDS-Hilfe Berlin. Zusammen mit Freunden aus Münchner Schwulenvereinen gründeten wir dann im Januar 1984 die Münchner AIDS-Hilfe. Das erste Ziel bei der Gründung war es, so viele Informationen wie nur möglich zu sammeln, um daraus „Verhaltensregeln“ abzuleiten und diese in unserer Szene zu propagieren. Denn, als Folge jahrelanger Diskriminierung, Ächtung und Ausgrenzung – der § 175 StGB wurde erst 1969 dahingehend geändert, dass sexuelle Handlungen unter männlichen Erwachsenen straffrei blieben –, lösten die Verhaltensempfehlungen durch staatliche oder kirchliche Institutionen zuerst einmal Abwehr aus, da eine Reglementierung des Lebensstils vermutet wird. Ein Zitat aus einem Faltblatt der Münchner AIDS-Hilfe (Januar 1985) möge dies verdeutlichen: „Bevor wir über mögliche Schutzmaßnahmen gegen sexuell übertragbare Krankheiten reden, müssen wir klar sagen, dass Sexualität ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Lebens ist. Das Recht, unser Leben – und auch unsere Sexualität – zu leben, darf uns niemand streitig machen. Dieses Recht dürfen wir uns auch nicht von einer Öffentlichkeit nehmen lassen, die AIDS dazu missbrauchen will, unsere Freiheiten einzuschränken.“ Diese Aussage gilt bis heute.
Wie recht wir hatten bei der Einschätzung, dass AIDS missbraucht werden könnte, um Freiheiten einzuschränken, zeigte sich, als die Bayerische Staatsregierung auf Initiative von Peter Gauweiler in Mai 1987 den „Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung der Immunschwächekrankheit AIDS“ in Kraft setzte. Er las sich wie ein Horrorkatalog: Ausscheidungsverdächtige, Ansteckungsverdächtige, Zwangstests, Absonderung, Berufsverbot, Risikopersonen und Abschiebung waren die Stichworte. Hier sollte die überholte Seuchenstrategie durchgesetzt werden: Infektionsquellen aufspüren und versiegeln.
Eine Begründung zur Einführung des Maßnahmenkatalogs lieferte Staatssekretär Gebhard Glück in einem Spiegel-Gespräch vom 20.05.1987: „Es ist eine Illusion, an das Verantwortungsbewusstsein aller zu glauben und darauf zu hoffen, dass sich alles von selber regelt. Deshalb muss der Staat auch zu anderen Maßnahmen greifen, um die Gesamtbevölkerung zu schützen, so gut es geht.“ Es war ein Segen für unsere Freunde aus den anderen Bundesländern, als die Bundesratsinitiative Bayerns mit elf zu einer Stimme abgelehnt wurde. Der Maßnahmenkatalog fand weltweit Beachtung. Bei einer großen Protestdemonstration mit mehr als 10.000 Teilnehmern waren zahlreiche Journalisten aus dem Ausland anwesend. Ich kann mich erinnern, dass ich z.B. Interviews für das niederländische und japanische Fernsehen gegeben habe.
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Gauweiler wurde damals von einem Dr. Michael Koch unterstützt – einem Landarzt, der mit AIDS keine Erfahrung hatte. Koch rechnete immer vor, dass es bald hunderttausende AIDS-Kranke in Deutschland geben würde. Das ist nie eingetroffen.
Wie weit die „Hetze“ gehen konnte, zeigt sich an der Forderung des Frankfurter Vereins zur AIDS-Verhütung: „Eine unauffällige, jedoch nicht reversible Kennzeichnung der Virusträger an Stellen, die beim Geschlechtsverkehr nicht zu verbergen sind“.
Ein Glück für uns alle war es, dass sich stattdessen die Linie der damaligen Bundesgesundheitsministerin Rita Süßmuth – Information und Aufklärung – durchgesetzt hat.
Zwischenbemerkung: Die heutige bayerische AIDS-Politik kann durchaus als mustergültig bezeichnet werden. Der Maßnahmenkatalog wurde schon vor Jahren außer Kraft gesetzt. Es gibt ein flächendeckendes kostenloses und anonymes HIV-Testangebot. Bei der Förderung der Beratungsstellen und Präventionsprojekte gab es nie eine Mittelkürzung.
Wegen fehlender Behandlungsmöglichkeiten war die Zeit bis zur Mitte der neunziger Jahre durch ein Massensterben gekennzeichnet. Ich kann es nicht anders nennen. Wir haben hunderte von Freunden und Bekannten verloren. Sie mussten zum Teil elendig sterben, abgemagert, gequält von Durchfällen und Schmerzen. Die Ärzte konnten nur das Leid ein wenig lindern.
Ich habe nur leidvolle Erinnerungen an diese Zeit: ein Freund, der uns seine Kaposiflecken zeigte und uns aufforderte, diese zu berühren, der Telefonanruf einer Bekannten, um sich von mir zu verabschieden, und die wenige Tage später verstarb, meine erste Wache am Krankenbett eines Sterbenden, ein Freund, der in der Kneipe heulend zusammenbrach, weil ich möglicherweise aus seinem Glas getrunken hatte, mein Zögern, die von einer infizierten Frau zubereiteten belegten Brote zu essen – jede Woche eine neue Bestattung und Abschied zu nehmen.
Der Wirt einer Münchner Bar sagte mir, dass er in einem Jahr 25 seiner Stammgäste verloren hat.
Diese Erinnerungen werde ich nie wieder los. Sie sind fest in meinem Kopf eingebrannt und schmerzen bis heute.
Der große Durchbruch geschah 1996 bei der Einführung der Kombinationstherapie. Jetzt konnte die HIV-Infektion besser behandelt werden. Die in den folgenden Jahren weitere Entwicklung hatte zur Folge, dass die Infektion eine chronische Erkrankung wurde. Häufig wird auch vom neuen AIDS gesprochen.
Persönlich bin ich ein großer Nutznießer dieser Entwicklung, da ich „erst“ 1998 die Diagnose HIV-positiv bekam. Selbstverständlich war diese Diagnose nicht erfreulich, aber die quälenden Fragen „Wann werde ich erkranken, kann ich noch arbeiten, wie lange habe ich noch?“ stellten sich so für mich nicht mehr. Viel mehr zu schaffen machte mir die Reaktion aus meiner Szene: „Wie blöd ist der denn, der ist doch selber schuld“ oder „Ausgerechnet der Präventionspapst“ (ich war damals noch im Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. und seit 1995 Leiter des Präventionsprojektes in München). Aber auch Teile der sogenannten Positivencommunity, insbesondere die Langzeitpositiven, reagierten mit Unverständnis: „Wir wussten damals noch zu wenig, aber heute sollte man doch informiert sein.“ Mich quälten tatsächlich Schuldgefühle und ich empfand mich als Versager.
Jetzt, viele Jahre später erlebe ich wieder eine andere Sicht auf die HIV-Infektion und den Umgang damit. Die Schuld für Neuinfektionen wird nahezu ausschließlich den Positiven zugeschrieben. Es wird erwartet, dass sie ihren Serostatus offenbaren, bevor es zu sexuellen Kontakten kommt. Es gilt nicht mehr die Aussage „Ich habe mich infiziert“, sondern „Ich wurde infiziert“. Auch die Rechtssprechung setzt eine Offenbarungspflicht voraus. Hierbei wird die Verantwortung für die eigene Gesundheit an den Positiven abgegeben. Außer Betracht bleiben dabei die Aussagen der Stellungnahme der Eidgenössischen Kommission für AIDS-Fragen (EKAF), nach der HIV-infizierte Menschen unter bestimmten Bedingungen nicht mehr infektiös sind. Gerne zitiere ich hieraus zwei Aussagen, die häufiger unter den Tisch fallen:
„HIV-infizierte Menschen dürfen wissen, dass sie das Virus nicht weitergeben. …Keine HIV-negative Person soll bei einer sexuellen Begegnung auf den Selbstschutz verzichten… Die Eigenverantwortung für die Gesundheit kann nicht delegiert werden.“
Es wäre sehr zu wünschen, dass dies auch in die deutsche Rechtsprechung Eingang findet. Für die Präventionsarbeit bedeutet dies für mich, dass wir nicht immer die Safer Sex Regeln herunterbeten – die sind zumindest in der schwulen Szene ausreichend bekannt, sondern verstärkt das Thema Verantwortung in den Vordergrund stellen müssen.
Die Diskriminierung von HIV hat nicht die Ausmaße erreicht, wie wir sie in den Achtziger befürchtet haben. Aber es wird immer noch diskriminiert und stigmatisiert, auch in der schwulen Community.
HIV/AIDS ist nicht mehr so im Bewusstsein wie früher. Menschen mit HIV und AIDS sind unsichtbar. Das Leid wird ausgeblendet. Aber damit Menschen mit HIV offen auftreten können, um HIV im Bewusstsein zu erhalten, muss Diskriminierung, Stigmatisierung, Ausgrenzung und Schuldzuweisung aktiv entgegen getreten werden. Respekt ist das Schlüsselwort.
Guido Vael, München
Guido Vael wurde 1947 in Flandern/Belgien geboren und studierte Radiochemie am belgischen Institut für Kernenergie in Mol. Seit 1969 lebt er in Deutschland und seit seinem Coming-out in Jahr 1977 in München. Er ist Gründungsmitglied der Münchner AIDS-Hilfe e.V. (1984) und Mitgründer der Wähler-initiative Rosa Liste in München. Von 1990 bis 1999 war er Mitglied des Bundesvorstands der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. Seit 1995 leitet er das Projekt Prävention im Sub e.V., das schwule Kommunikations- und Kulturzentrum in München. Er lebt seit 1977 in einer festen Partnerschaft.