Sabine Weinmann, Berlin
In diesen bewegten und aktiven Zeiten lernte ich sehr viel
Zu dieser Zeit kündigte ich aus persönlichen Gründen und kam drei Jahre später als HIV-Positive zurück. Um meiner persönlichen Infektion einen Sinn zu geben, engagierte ich mich fortan aktiv in verschiedenen Positionen und Funktionen im AIDS-Bereich. Anfänglich ging es hauptsächlich bei uns darum, sich von Schuldgefühlen zu befreien, das eigene Selbstbewusstsein zu stärken. Wir lernten, dass man auch mit HIV Sex haben darf und (etwas später) dass es nicht verwerflich ist, schwanger zu werden.
Mütter sorgten sich zusätzlich zu ihrer eigenen HIV-Infektion und ihrer Angst vor Erkrankung und dem eigenem Sterben um ihre Kinder. Egal ob die Kinder infiziert waren oder nicht, stand immer die Frage im Raum: Wie schütze ich mein Kind vor Ausgrenzung? Wenn die Infektion nur die Mutter betraf, war zu klären: Sage ich es meinem Kind? Und wenn ja, wann? Oder, wenn auch das Kind infiziert war: Wie schaffe ich es, meinem infizierten Kind auf der einen Seite ein verantwortungsbewusstes Verhalten und auf der anderen Seite ein kindgerechtes Leben zu schaffen? Wie betreibe ich Vorsorge, falls ich mal nicht mehr bin? Das sind auch heute noch aktuelle Fragestellungen...
Studien besagten damals, dass Frauen in der Regel zirka 8 Jahre nach ihrer Infektion erkrankten, während die Krankheit bei Männern erst nach 10-12 Jahren ausbrach. Durch die Vielzahl der in den Jahren entwickelten wirksamen Medikamente haben Frauen heutzutage bei einer Neuinfektion die gleiche Prognose wie Männer, nämlich eine altersgemäße Lebenserwartung (sofern nicht noch Koinfektionen bestehen).
Anfang der 90er Jahre berichteten immer mehr Frauen von Nebenwirkungen bei Einnahme der HAART, die von den von Männern beschriebenen in der Symptomatik entweder abwichen oder als stärker empfunden wurden. Frauen beschrieben schneller Herz- und Nervenprobleme und klagten vermehrt über depressive Verstimmungen.
Ich selbst litt nach kurzer Zeit der Einnahme von ART unter Endokrinopathien und einige Jahre später unter kardiovaskulären Erkrankungen.
Während diese von den Frauen beschriebenen Nebenwirkungen in den Arztpraxen oft erstmal mal als psychosomatisch abgetan wurden – was dazu führte, dass sich die Frauen nicht ernst genommen fühlten und daher auch nichts mehr über Befindlichkeiten sagten, häuften sich die Forderungen nach frauenspezifischen Forschungen und Studien. 1992 wollten Frauen aus ihren isolierten Arbeitssituationen herauskommen und statt in unterschiedlichen Gremien und Zusammenhängen solidarisches Handeln zu erproben, eine Vernetzung erarbeiten. Dies geschah im gleichen Jahr in einem Workshop mit dem Thema: „Zwischen Lust und Frust – Macherinnen in der AIDS-Krise?“ Es entstand das Netzwerk für Frauen und AIDS. Der Anspruch war, einen niedrigschwelligen Zugang für alle Interessierte – unabhängig vom Serostatus – zu bieten. Es sollte einen Info-Pool geben und eine Plattform bieten, sich politisch zu engagieren. Nächstes Jahr wird das Netzwerk 20-jähriges Jubiläum feiern. Es gibt noch viel zu tun.
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Unseren medizinischen und psychosozialen speziellen Probleme werden in der AIDS-Forschung zwar mehr Aufmerksamkeit geschenkt, jedoch reicht dies nicht aus. Es gibt noch viele Fragen, auf die es noch keine Antworten gibt. Zu Fettstoffwechselstörungen, Lipodystrophie und Lipoatrophie, Osteopenie/Osteoporose oder kardiovaskulären Erkrankungen sollte noch geschlechtssensibler geforscht werden. Weitere Fragen werden aufgeworfen, z.B. bei der Interaktion von Verhütungsmitteln und der HAART. Durch die verlängerte Lebensphase erhebt sich die Frage: Was passiert in der Menopause? Können junge Mütter ihre Babys stillen, wenn sie seit langem unter der Nachweisgrenze der Viruslast liegen?
Und ich? In diesen bewegten und aktiven Zeiten lernte ich sehr viel. Ich durfte viele intelligente, engagierte, sensible Menschen kennen lernen. In schweren Zeiten, in denen meine Krankheit ausgebrochen war und ich nicht so aktiv und engagiert durch Berlin, Deutschland und die Welt „herumeilen“ konnte, wie ich wollte, lernte ich, dass Vögel tatsächlich zwitschern, dass es wirklich ein Prozess ist, wenn der Frühling kommt und die Natur erblüht. Das hatte ich nämlich in Zeiten der Arbeit nicht bemerkt. Da war dann immer ganz plötzlich Frühling.
Ich lernte noch viele andere Alltäglichkeiten zu schätzen und vor allen Dingen, mich ernst – aber nicht zu ernst zu nehmen.
Sabine Weinmann, Berlin
Von 1986-1987 arbeitete Sabine Weinmann administrativ in der Berliner AIDS-Hilfe (BAH), war unter einem berenteten Status 1994-1995 Redaktionsmitglied der autonomen Zeitschrift „Helferzelle“ und 1997-1998 Positivensprecherin in der BAH, ehe sie 1999-2000 als Vorstandsmitglied der BAH tätig war. Zwischenzeitlich arbeitete sie 1998/99 und 2000 bei der Organisation HIV im Dialog. Durch den Erfolg der HAART stieg sie Oktober 2000 aus der Rente aus, um die Projektleitung eines Beschäftigungsmodells für chronisch Kranke zu übernehmen. Seit 2006 ist Sabine Weinmann wieder berentet und engagiert sich seit 2010 verstärkt im Netzwerk Frauen und AIDS.