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Thorben Sauer, Berlin
HIV und Trans* – (k)ein Thema oder viele?
Seit dem Erfolg der antiretroviralen Kombinationstherapien ist zumindest für die westlichen Länder HIV ein immer weniger lebensbedrohliches Thema. Die Neuinfektionsrisiken verlagern sich zunehmend weg von schwulen Mittelstandsmännern, hin zu besonders randständigen Gruppen der Gesellschaft, wie intravenöse Drogennutzer_innen*, Wohnungslose, Migrant_innen, Bildungsverlierer_innen, Sexarbeiter_innen etc. – und besonders solche, bei denen mehrere dieser Merkmale zusammen kommen.1 Auch Transgender, Transidente, Transsexuelle (kurz: Trans*) gehören zu den gesellschaftlich besonders vulnerablen Gruppen, denen bisher im Rahmen der HIV/AIDS Bekämpfung außerhalb der Entwicklungszusammenarbeit wenig – in Deutschland keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dabei zeigen viele, vor allem US-amerikanische Studien, dass Seropositivraten innerhalb urbaner Trans*-Communities zwischen 22% und 63% liegen.2 Wenn wir davon ausgehen, dass die Gesundheitssituation von Trans* in der bundesdeutschen Gesellschaft nicht wesentlich von der in anderen westlichen Ländern abweicht, kann also zunächst zu Recht vermutet werden: Ja, trans* und HIV ist ein Thema. Aber wenn doch, welches bzw. wieviele und für wen?
Mehrfach benachteiligt
Aufgrund der gesellschaftlich stigmatisierten Lage von Trans*, fallen Trans* häufiger unter weitere Benachteiligungskategorien, wie Trans* und wohnungslos, Trans* und Suchtmittelgebrauch, Trans* und Arbeitslosigkeit, Trans* als Sexarbeiter_innen etc.3 Ein weiteres Thema, das in die traurige Nähe zu Trans* zu rücken ist, ist die psycho-soziale Gesundheit. Depressionen und eine hohe Selbstmordgefährdung können neben dem Risiko einer Neuinfizierung u.U. auch die Testbereitschaft beeinflussen (es gibt Hinweise auf ein „Under-Testing“ der Trans*-Community).4
Transmänner
Statistisch aussagekräftige Informationen zu Transmännern sind selbst im US-amerikanischen Kontext rar, aber Wissen zu besonderen Gefährdungssituationen existiert: niedriges Einkommen, Erfahrungen mit sexueller Gewalt und Missbrauch, Diskriminierung und soziale Isolation beschreiben viele transmännliche Lebenslagen. Beim ersten Erfahrungsaustausch zu trans* und HIV anlässlich des Kongresses „HIV im Dialog” im August 2011 in Berlin, berichteten z.B. anwesende schwule Transmänner, dass sie sich glücklich schätzen würden, wenn sich ein schwuler Cis-Mann5 überhaupt sexuell auf sie einlassen würde. Welche Auswirkungen auf Safer Sex Praktiken eine solch ungleiche Verteilung von (Ver-) Handlungsmacht ggf. haben kann, ist bisher nicht erforscht.6
Transfrauen
Die Situation von Transfrauen scheint besonders prekär zu sein – ebenso wie ihr (Nicht-) Einbezug in die europäische und deutsche MSM-Forschung. Schon 2004 steht im HIV-Präventionsplan von San Francisco, dass die HIV-Prävalenz mit 17,5% unter Trans* allgemein überdurchschnittlich hoch ist und besonders Transfrauen von HIV betroffen sind. Afro-amerikanische Transfrauen führten diese traurige Statistik mit 33% an.7 Trotzdem sucht man klinische Forschung zu Übertragungswegen via Neo-Genitale oder sozialwissenschaftliche Forschung zu Trans* und HIV außerhalb einer Tätigkeit in der Sexarbeit vergeblich.
Beispiel Sexarbeit
Diverse Studien siedeln den Anteil von trans* Frauen in der Gruppe der Sexarbeiterinnen in großstädtischen Ballungsräumen bei 30% bis 40% an.8 Eine beachtliche Zahl, die obendrein in Deutschland ohne eine eigene Lobby, Community und Infrastruktur geblieben ist, wie sie beispielsweise cis-weibliche Sexarbeiterinnen zumindest in Großstädten (z.B. der Verein Hydra e.V.) haben. Bedrohung und körperliche Gewalt durch Freier, aber auch Illegalisierung und das risikoreichere Anschaffen auf der Straße erhöhen den Marginalisierungsgrad zusätzlich. Trotzdem scheint: Das „Schutzniveau ist bei professionellen Kontakten von Transvestiten und Transsexuellen relativ hoch“.9 Je nach Studie und Praktik schwankt das Schutzniveau durch Präservativ zwischen 70% und 100%. Zwischen den bezahlten Sexarbeits- und unbezahlten Privat-Kontakten ist für Transfrauen jedoch ein deutlicher Unterschied feststellbar. Bei Letzteren schützen sich Transfrauen offenbar deutlich weniger gut. Höchstens die Hälfte aller Transfrauen geben an, bei unbezahlten Sexualkontakten regelmäßig Kondome gebraucht zu haben. Auch hier können als Motiv für die höhere Risikobereitschaft in Partnerschaften – ähnlich wie bei Transmännern und zusätzlich zur besonderen Prekarität – soziale und emotionale Isolation vermutet werden.
Weniger Schutz bei privaten Kontakten
Insgesamt ergab eine Schweizer Studie, dass sich die Gruppe der trans* weiblichen Sexarbeiter_innen allgemein durch eine hohe HIV-Prävalenz auszeichnet, selbst bei denen, die keine Drogen injizieren.10 Alles zusammen genommen ein spannender Befund – hat sich doch bis dato die meiste Forschung zu trans* und Sexarbeit auf die Praxis des Anschaffens und nicht etwa auf den privaten und/oder trans* Bereich fokussiert. Wieder einmal sind es die USA, in denen eine der wenigen, solche Forschungslücken schließenden Untersuchungen unternommen wurde.11 Ihre Ergebnisse zeigen: Das Stigma und die Diskriminierung, die der sozialen Realität von Trans* entsprechen, sind die Hauptgründe, warum besonders Transfrauen bereit sind, sich auf von Partnern verlangte unsafe Praktiken einzulassen.
BLinder Fleck in der AIDS-Aufklärung
Und was tut die deutsche HIV/AIDS-Aufklärung? Studien zu Trans* und HIV, spezielles Info-Material oder Betroffenengruppen sucht man bislang in Deutschland vergebens. So erwähnte beispielsweise das Berliner Entwicklungskonzept für die Prävention von HIV/AIDS zwar die Bereiche Sexarbeit und Migration, ließ jedoch Trans* jeweils außen vor.12 Auch an weitere Intersektionen, wie Illegalisierte ohne Krankenversicherung, ältere Schwule und homosexuelle Jugendliche wurde gedacht, jedoch nicht an die Schnittstellen zu Trans*. Das verwundert wenig: unter den 25 zur Konzepterstellung befragten Expert_innen, deren Auswahl sich eng an schwulen Community-Strukturen orientierte, befand sich kein_e einzige_r Experte_in einer Trans*-Organisation, die es in Berlin durchaus und mittlerweile auch in einer nie zuvor da gewesenen Vielfalt gibt. Dabei würde sich der im Konzept verfolgte Ansatz der Gesundheitskompetenz gut eignen, auch die unterschiedlichen Lebens- und Gefährdungslagen von Trans* positiv zu beeinflussen. Mehr Austausch darüber ist nötig.
Trans* und HIV ist also aufgrund der multiplen Diskriminierungslagen nicht nur ein Thema, sondern viele. Von klinischer Forschung zu ggf. bestehenden Besonderheiten bei Übertragungswegen bei Neo-Genitalen, Krankheitsverläufen und Wirkung von Kombi-Therapien bei gegengeschlechtlicher Hormonsubstitution bis zu sozialwissenschaftlicher und/oder Public Health Forschung zur Lebens- und Diskriminierungssituation. Der HIV-Dialog zu Trans* steht noch ganz am Anfang.
* _: Der Unterstrich dient als Platzhalter, um zwischen-geschlechtliche Identitäten jenseits von binär männlichen oder weiblichen sprachlich sichtbar zu machen.
1 Colin Dodds, Ronald Colman, Carol Amaratunga, & Jeff Wilson (2010). The Cost of HIV/AIDS in Canada. BES, GPI Atlantic, S. 1; 6.
2 JoAnne Keatley & Samuel Lurie (2008). Building Provider Capacity for Serving Transgender Populations: A Train-the-Trainer Model. ‚Select Symposium Abstracts from WPATH 20th Biennial Symposium, Chicago, Illinois, USA September 2007‘, in: International Journal of Transgenderism, 10(3), S. 173-219.
3 Jannik Franzen & Arn Sauer (2010). Benachteiligung von trans* Personen insbesondere im Arbeitsmarkt. Expertise für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Berlin.
4 Bockting et al. (2005). Are Transgender Persons at Higher Risk for HIV Than Other Sexual Minorities? A Comparison of HIV Prevalence and Risks, in: in International Journal of Transgenderism (The Haworth Medical Press, an imprint of The Haworth Press, Inc.) Vol. 8, No. 2/3, S. 123-131.
5 „Cis“ steht als lateinische Vorsilbe für Männer und Frauen, die sich ihrem Geburtsgeschlecht zugehörig fühlen (nicht trans*).
6 Adams et al. (Hrsg.) (2008). Getting Primed: Informing HIV Prevention with Gay/Bi/Queer Trans Men in Ontario. Toronto: Gay/Bisexual/Queer Trans Men’s Working Group, Ontario Gay Men’s HIV Prevention Strategy, AIDS Bureau, Ontario Ministry of Health and Long-Term Care, S: 39.
7 Transgender HIV/AIDS Health Services (ohne Datum). Best Practice Guidelines. San Francisco, S.7.
8 Institut Universitaire de Medecine Sociale et Preventive, Unité d’évaluation de programmes de prévention Lausanne (2004). Thematisches Heft: Die SexarbeiterInnen. Laussanne, S. 5.
9 Ebd., S. 7.
10 Ebd.
11 Ritam Melendez & Rogerio Pinto (2007). ‚It‘s really a hard life‘: Love, gender and HIV risk among male-to-female transgender persons, in: Culture, Health & Sexuality, 9(3), S. 233-245.
12 Rolf Rosenbrock (2010). Entwicklungskonzept für die Prävention von HIV/Aids, sexuell übertragbaren Infektionen und Hepatitiden in Berlin, Berlin.