Rainer
Herrn, Berlin
Transvestitismus und Transsexualität in
historischer Perspektive
Cross-Dressing – der Wechsel zur Kleidung des anderen Geschlechts – und, oft damit verbunden, der Wechsel des sozialen Geschlechts sind in der europäischen Kulturgeschichte seit Langem bekannt. Von einigen Ausnahmen abgesehen wissen wir angesichts fehlender autobiografischer Aufzeichnungen allerdings wenig über die Motive und den sozialen Alltag solcher historischer Personen, deren „wahres“ Geschlecht meist erst anlässlich kriminologischer Ermittlung oder ärztlicher Untersuchung bei Krankheit oder Tod entdeckt wurde, dann aber großes Aufsehen erregte. Überlegungen über ein entsprechendes kulturelles Phänomen liegen aus früheren Zeiten nicht vor, auch einen bezeichnenden Begriff gab es nicht. Unterstellt wurde den Betreffenden eine juristisch zu ahndende Täuschung aus unlauteren persönlichen oder politischen Motiven. In Deutschland galten sogenannte Cross-Dresser bis Mitte des 19. Jahrhunderts als Hochstapler und Schwindler, einige wurden gar der Spionage verdächtigt.
Geschlechtswechsel in der Sexualpathologie
Abb. 1 li vor, re nach der polizeilichen Genehmigung – Josef Meißauer war 1911 der erste Transvestit, der aufgrund eines Gutachtens Magnus Hirschfelds einen polizeilich beglaubigten „Transvestitenschein“ erhielt. Dieser sollte ihn vor Festnahmen wegen der Erregung öffentlichen Ärgernisses schützen.
Quelle: Hirschfeld Magnus: Der erotische Verkleidungstrieb. Die Transvestiten. Berlin 1912
Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnende sexualpathologische Debatte umgreift alle von den Geschlechternormen abweichenden Verhaltensweisen bei Frauen und Männern. Als nur graduell verschiedene Phänomene einer mischgeschlechtlichen Psyche wurden gleichgeschlechtliches sexuelles Begehren, Cross-Dressing und Wechsel der Geschlechterrollen in der sogenannten „conträren Sexualempfindung“ zusammengefasst – einer 1870 vom Charité-Psychiater Carl Westphal eingeführten Sammelbezeichnung. Daraus gingen später sukzessive die Konzepte der Homosexualität, des Transvestitismus und der Transsexualität hervor.
Die in jener Schlüsselveröffentlichung beschriebenen zwei Fälle sind eine Frau, die von sich sagt: „Ich fühle mich überhaupt als Mann und möchte gern ein Mann sein“ (Westphal 1870, 80), und ein Mann, der klagt: „Das weibische Wesen ist eine wahre Qual für mich gewesen, das Verlangen, Frauenkleider anzuziehen, steigt öfter [...] in mir auf“ (ebd., 84). Richard von Krafft-Ebing, Wortführer der Psychopathia Sexualis, verstand die conträre Sexualempfindung sogar als kumulatives Phänomen: Je mehr Zeichen des „anderen“ Geschlechts Körper und Seele offenbaren, desto fortgeschrittener sei der Prozess der Geschlechterdegeneration, an dessen Spitze die „Metamorphosis sexualis paranoica“, der Wahn der Geschlechtsumwandlung stehe.
Im Dialog mit der Wissenschaft
Im Kontext der um die Jahrhundertwende zunehmenden Verwissenschaftlichung, Popularisierung und Politisierung der Homosexualität begann auch der Selbstdiskurs der Cross-Dresser und Geschlechtswechsler. Sie initiierten einen Dialog mit Sexualwissenschaftlern, im Zuge dessen Magnus Hirschfeld 1910 seinen Entwurf des Transvestitismus vorlegte (Hirschfeld 1910). Impulse zur Separierung der Transvestiten von den „Conträr Sexuellen“ ging dabei vor allem von den Cross-Dressern aus, weil sie nicht – wie bis dahin üblich – als Homosexuelle gelten wollten; aber auch vom virilen Flügel der Homosexuellenbewegung, dem es überaus wichtig war, sich von den als Frauen auftretenden Männer zu distanzieren.
Zu den Transvestiten zählten auch Frauen und Männer, die nicht nur die Kleidung des anderen Geschlechts bevorzugten, sondern sich diesem ganz zugehörig fühlten, damals jedoch ohne ausdrücklichen Operationswunsch. In den wenigen Mitteilungen dieser Personengruppe über die Wahrnehmung ihrer Körper finden sich keine Hinweise auf leibliche Änderungsbedürfnisse. Der Wechsel des sozialen Geschlechts war im Selbstkonzept dieses Personenkreises nicht notwendig mit einem ‚Unbehagen im Körper’ und dem Wunsch nach dessen Umgestaltung verbunden. So ist in den sehr ausführlichen 17 Fallbeschreibungen in Magnus Hirschfelds 1910 veröffentlichter Studie Die Transvestiten von Versuchen, den Körper zu verändern, nicht die Rede. Er berichtet auch von einigen, die über kürzere oder längere Zeit als Frau gelebt hatten. Die Körperwünsche und -wahrnehmungen dieser Personen fasst er dahingehend zusammen, dass einige wohl ein wenig nachhalfen, um auch physisch als Frau zu erscheinen, indem sie mit Fistelstimme sprachen, sich glatt rasierten oder die Haare lang wachsen ließen. Doch gingen ihre Bemühungen nicht darüber hinaus.
Lebensreform und Körperbedeutung
Der Körper erfuhr in den alle Bevölkerungsschichten und gesellschaftliche Bereiche durchziehenden Lebensreformbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Rehabilitierung, Neudefinition und Aufwertung: natürliche Körperlichkeit, physische Schönheit und Nacktheit sind einige zentrale Themen. Der Körper wurde Ausdruck der Seele, ihn galt es als materialisiertes Spiegelbild des Selbst zu modellieren und zu disziplinieren, und zwar entsprechend den grundverschiedenen ästhetischen Idealen von Männlichkeit und Weiblichkeit.
Die Bedeutungsaufladung des Geschlechtskörpers für die Selbstdefinition dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, Personen, die sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlten, zur physischen Umgestaltung zu motivieren. Diese Kontextualisierungs- und Plausibilisierungsversuche können zwar das Aufkommen des Wunsches nach körperlichen Veränderungen und operativer Geschlechtsumwandlungen einordnen, erklären können sie diese jedoch nicht: Denn sie vermitteln keinen Eindruck von der Tiefe psychischen Leides, das einzelne Menschen Anfang des 20. Jh. dazu trieb, die irreversible Umgestaltung ihres Körpers durch derart invasive Eingriffe – wie sie Kastrationen und Amputationen schließlich darstellen – einzufordern, durchzusetzen oder an sich selbst vorzunehmen.
Der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung
Abb. 2 Schutzumschlag der ersten Autobiografie eines „Transsexuellen“, Lili Elbe. Sie erschien 1932 unter dem Titel „Ein Mensch wechselt sein Geschlecht.“
Die in der Folgezeit mitgeteilten ersten Versuche körperlicher Manipulationen von Transvestiten zielten allerdings noch nicht auf eine operative Umgestaltung der Geschlechtsorgane, sondern zunächst ‚nur’ darauf, die Zeichen des Herkunftsgeschlechts zu tilgen. Diese Schlussfolgerung legen zumindest die ausgewerteten Quellen nahe. So berichten die Ärzte Tange und Trotsenburg 1911 über einen niederländischen Transvestiten, der mittels verschiedener Manipulationen versuchte, seinen Körper zu verweiblichen (Tange/Trotsenburg 1911). Dieser verheiratete Vater von vier Kindern hatte sich bereits 1905 einseitig kastriert, sechs Jahre später entfernte er mit Hilfe seiner Frau auch den zweiten Hoden und versuchte durch „Lufteinblasungen“ Brüste zu bekommen, weshalb er mehrfach in Krankenhäuser eingeliefert wurde. Von nun an mehren sich derartige Mitteilungen in der Fachpresse. Das Selbstgestalten des Geschlechtskörpers findet zunächst vor und außerhalb der medizinischen Diskursivierung der operativen Geschlechtsumwandlung statt und lässt die Dimensionen der individuellen Not, die zu solchen radikalen Selbstversuchen Anlass gab, bereits erahnen.
Der Berliner Chirurg Richard Mühsam, dem in der medizinischen Diskussion eine Schlüsselposition zukommt, operierte im selben Zeitraum (nämlich 1912) einen ersten vom ihm so bezeichneten weiblichen Transvestiten, die 35-jährig, darauf drängte, sich Brüste und Gebärmutter entfernen zu lassen. Nachdem er ihr auch die Ovarien herausgenommen hatte, schreibt Mühsam „fühlte sie sich [...] freier und betrieb die Umschreibung ihres Personalstandes“ (ebd.). Außer jenen Operationswünschen führte Mühsam keine Argumente zur Rechtfertigung dieser sukzessiven Eingriffe an. Und obwohl diese Operation aus heutiger Sicht als erste ärztlich ausgeführte Geschlechtsumwandlung von Frau-zu-Mann zu gelten hat, wurde sie damals nicht als solche betrachtet.
Auch Hirschfeld teilt 1918 erstmals zahlreich geäußerte Bedürfnisse und Versuche körperlicher Umgestaltung mit. Er berichtet ebenso von männlichen Transvestiten, bei denen sich die Tendenz zur Körperveränderung „sogar bis auf den Genitalapparat“ erstreckte, „Kastrationswünsche femininer Männer sind mir oft begegnet“ (Hirschfeld, 1918: 132). Nachdem Hirschfeld 1919 sein Institut für Sexualwissenschaft eröffnet hatte, kamen allein im ersten Jahr zwölf Männer zu ihm, die um eine Kastration baten.
Die Rolle der Medien
Die ersten ausdrücklichen Artikulationen des Wunsches nach operativer Geschlechtsumwandlung stehen im Kontext der nach 1900 einsetzenden Forschungen über die Wirkungen von Geschlechtshormonen auf Physis und Psyche, der jungen Sexualendokrinologie, die nunmehr zur zentralen sexualwissenschaftlichen und -therapeutischen Leitdisziplin avancierte. Ab etwa 1910 wurden experimentelle Geschlechtsumwandlungen an Versuchstieren durchgeführt. Über die vom Wiener Physiologen Eugen Steinach erfolgreich realisierten Umwandlungen berichtete die Fach- und Tagespresse als Sensation. Infolge dieser Popularisierungswelle wandten sich nachweislich einige Personen an geeignet erscheinende Ärzte.
Wie jene Presseberichte Wünsche nach analogen Operationen wach riefen, veranschaulicht das konkrete Beispiel eines 1916 vom Sexualwissenschaftler Max Marcuse beschriebenen Mannes: Als der Direktor des Dresdener Zoos Gustav Brandes Steinachs Versuche an Dammhirschen wiederholt hatte, berichtete das Berliner Tageblatt ausführlich darüber. Darauf Bezug nehmend teilt der Sexualwissenschaftler Max Marcuse über einen Patienten mit: „Die im Mai v. J. durch die Presse gegangene Notiz von den Brandesschen Experimenten [...] veranlasste Herrn A., mich darüber zu konsultieren, ob eine derartige Operation nicht auch am Menschen mit Erfolg ausgeführt und er auf diese Weise zu einem Weibe gemacht werden könnte“ (Marcuse 1916: 176). Jener Transvestit, den das „Vorhandensein des Gliedes und der Hoden oft zur Verzweiflung“ brachte, suchte Marcuse in kurzen Intervallen immer wieder mit demselben Anliegen auf. Er sei völlig beherrscht von der „Idee der Verweiblichung und ihrer Herbeiführung auf operativem Wege.“ Deutlich zeigt sich an diesem Beispiel, wie schnell die operative Geschlechtsumwandlung beim Menschen aufgrund jener Tierversuche als Handlungsoption diskutiert wurde.
Die Geschlechtsumwandlung wird Routine
In der Folgezeit setzte eine Medikalisierungswelle der Geschlechtsumwandlung ein, in deren Zuge ein ganzes Verfahrensarsenal – mit Einverständnis der Geschlechtswechsler – an ihnen erprobt wurde. In diesem Wechselspiel zwischen ärztlichem Können und individuellen Wünschen ging es darum, den Körper medikamentös und operativ mit dem jeweiligen Wunschgeschlecht in Übereinstimmung zu bringen – nun sogar im Sinne der Ausformung der gewünschten Genitale als dessen bedeutendstem Ausdruck. Einige Ärzte experimentierten mit Techniken und Methoden, die mit ganz anderen Zielen entwickelt und eingesetzt worden waren. Parallele medizinische Versuche in der gynäkologischen Krebschirurgie (Ausformung einer Neovagina), der Röntgentherapie (Haarentfernung), der kosmetischen Medizin (Paraffinbrustplastik) sowie der Wiederherstellungschirurgie im Ersten Weltkrieg (Keimdrüsentransplantation) trugen schließlich dazu bei, dass mithilfe eines ganzen Arsenals medizinischer Techniken aus der Fiktion der Geschlechtsumwandlung beim Menschen reale Praxis wurde (Herrn 2005: 185-196). Erste vollständige operative Geschlechtsumwandlungen sind nach 1920 belegt, um 1930 gehörten sie schon fast zur Routine, wie Felix Abraham, ein Mitarbeiter Magnus Hirschfelds 1931 berichtete.
Felix Abraham: Genitalumwandlung an zwei männlichen Transvestiten.
In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft, 18 (1931), S. 223-226.
Rainer Herrn: Schnittmuster des Geschlechts. Transvestitismus und
Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft. Gießen 2005.
Magnus Hirschfeld: Die Transvestiten. Berlin 1910.
Magnus Hirschfeld: Sexualpathologie. Bd. II, Sexuelle
Zwischenstufen. Bonn 1918.
Max Marcuse: Ein Fall von Geschlechtsumwandlungstrieb. In:
Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie, 6 (1916), S.
176-192.
Richard Mühsam: Chirurgische Eingriffe bei Anomalien des
Sexuallebens. In: Therapie der Gegenwart, 67 (1926), S. 451-455.
R. A. Tange; J. A. van Trotsenburg: Ein merkwürdiger Fall von
Selbstverstümmelung. In: Sexualprobleme, 7 (1911), S. 391-400.
Carl Westphal: Die conträre
Sexualempfindung. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 2 (1870),
S. 73-108.