Allan
Brolund, Hamburg
Perinatale HIV-Infektion oder Not macht erfinderisch
NRTI Resistenzmutationen: | M41L, D67N, K70R, V75M, M184V, L210W, T215Y | ||
NNRTI Resistenzmutationen: | K101E, V106M, G190A | ||
Andere Mutationen: | E44D, E138A | ||
Nukleoside RTI | Non-Nukleoside RTI | ||
---|---|---|---|
Lamivudin (3TC) | Ausgeprägte Resistenz | Efavirenz (EFV) | Ausgeprägte Resistenz |
Abacavir (ABC) | Ausgeprägte Resistenz | Etravirin (ETR) | Geringe Resistenz |
Zidovudin (AZT) | Ausgeprägte Resistenz | Nevirapin (NVP) | Ausgeprägte Resistenz |
Stavudin (D4T) | Ausgeprägte Resistenz | Rilpivirin (NVP) | Geringe Resistenz |
Didanosin (DDI) | Ausgeprägte Resistenz |
| |
Emtricitabin (FTC) | Ausgeprägte Resistenz |
| |
Tenofovir (TDF) | Ausgeprägte Resistenz |
| |
PI Major-Resistenzmutationen: | Keine | ||
PI Minor-Resistenzmutationen: | L10I, E35G | ||
Andere Mutationen: | I13V, K20I, M36I, L89M | ||
Protease-Inhibitoren | |||
Atazanavir/r (ATV/r) | Empfindlich | Iopinavir/r (LPV/r) | Empfindlich |
Darunavir/r (DRV/r) | Empfindlich | Nelfinavir (NFV) | Geringe Resistenz |
Fosamprenavir/r (FPV/r) | Empfindlich | Saquinavir (SQV/r) | Empfindlich |
Indinavir/r (IDV/r) | Empfindlich | Tipranavir/r (TPV/r) | Empfindlich |
Tab. 1 Resistenztest des Neugeborenen und Interpretation
Frühe Therapie indiziert
Die HIV-Infektion im Alter von unter 12 Monaten sollte aufgrund des hohen Mortalitätsrisikos unabhängig von Helferzellzahl und Viruslast antiretroviral behandelt werden. Voraussetzung für die Behandlung von HIV-infizierten Kindern sind sowohl das Vorliegen einer Zulassungen der Medikamente im Kindesalter als auch die Verfügbarkeit von pädiatrischen Formulierungen. Gleichzeitig müssen psychosoziale Faktoren in Betracht gezogen werden, speziell im Hinblick auf die Fähigkeit der Eltern die notwendige Therapieadhärenz zu gewährleisten.
Angesichts der ausgeprägten Resistenz entschlossen wir uns zu einer Therapie mit Raltegravir, Lopinavir/r und Lamivudin zweimal täglich. Eine Zulassung gibt es für diese Therapiestrategie nicht, dennoch wagten wir diesen Versuch, da wir bei den äußerst limitierten Alternativen ein Therapieversagen unter einer funktionellen Monotherapie unbedingt vermeiden wollten.
Für Lopinavir/r und Lamivudin gibt es relativ gute Erfahrungen in der pädiatrischen Anwendung sowie entsprechende Formulierungen. Für die Kombination mit Raltegravir gab es zum damaligen Zeitpunkt 2010 lediglich einige wenige Therapieversuche bei Kindern ab sechs Jahren.
Herstellung einer Lösung
Für Raltegravir gab es zudem weder eine Formulierung in
Saft- oder Pulverform noch eine Dosisempfehlung für die Therapie im
Kindesalter. Nach intensiver Literaturrecherche extrapolierten wir aus den
bisher veröffentlichten Therapieversuchen bei älteren Kindern eine Dosis von 6
mg/kg Körpergewicht zweimal pro Tag. Zur Applikation wurden die Raltegravir
Tabletten gemörsert, abgewogen und mit Manitol und Siliciumdioxid zur besseren
Wasserlöslichkeit in Kapseln abgefüllt. Die Kapseln wurden dann von der Mutter
eröffnet, der Inhalt in Wasser gelöst und die Suspension mit einer Spritze dem
Säugling oral appliziert. Die Dosierung wurde alle 4-8 Wochen an das sich
verändernde Gewicht des Kindes angepasst.
Tab. 2 Minimale (Cmin), maximale (Cmax) Konzentration und Zeit bis zur maximalen Konzentration (Tmax)
Unter der Therapie kam es zu einem Abfall der Viruslast bis unter 200 Kopien/ml nach 20 Wochen. Nach einer Therapiedauer von 48 Wochen befand sich die Viruslast unter der Nachweisgrenze von 20 Kopien/ml.
Pharmakokinetik
Zur Therapiekontrolle führten wir außerdem pharmakokinetische Messungen durch und konnten Talspiegel von Cmin 146 ng/ml (20-250 ng/ml) und Maximalspiegel von Cmax 1.960 ng/ml (1.570-2.450 ng/ml) feststellen (Abb. 1, Tab. 2). In regelmäßigen Gesprächen mit der Mutter thematisierten wir immer wieder die Therapiesituation des Kindes und die geringen Alternativen im Falle eines virologischen Versagens. Im Bewusstsein dieser sehr speziellen Situation sorgt sie zuverlässig für die regelmäßige Einnahme der Medikamente. Sie legte damit die Grundlage für das gute virologische Ansprechen der Therapie, die von unserem Patienten bisher gut vertragen wird.
Therapie der Mutter?
Abb. 1 Steady state bei Dosierung von 45 mg (6 mg/kg)
Bei aller Freude über das gute Ansprechen des Kindes muss jedoch geklärt werden, wie es überhaupt zu dieser Situation kommen konnte. Dies ist bis heute Gegenstand eines juristischen Verfahrens. Dabei ist unstrittig, dass sich im dreijährigen Verlauf der Therapie der Mutter unseres Patienten mit Nevirapin und Zidovudin/Lamivudin bei wechselnden Viruslasten bis zu 100.000 Kopien/µl und sukzessive abfallenden CD4-Zahl bis auf 194/µl kein Therapieerfolg einstellte. Eine Umstellung der Therapie wurde weder vor, während oder nach der Schwangerschaft eingeleitet. Bei der Schwangeren musste schließlich bei vorzeitigem Blasensprung mit einer Viruslast von über 100.000 Kopien/ml eine Notsectio durchgeführt werden. Diese fand in einer Klinik statt, welche nicht regelmäßig HIV-infizierte Frauen entbindet. Dort fiel nicht auf, dass kein aktueller Resistenztest der Mutter vorlag und so bestand die Hochrisiko-Transmissionsprophylaxe des Neugeborenen aus Zidovudin, Nevirapin und Lamivudin und war somit identisch zur Therapie, unter der die Mutter bereits seit Jahren versagt hatte. Die Verkettung all dieser Umstände führte letztendlich zu einer Infektion des Neugeborenen.
Fazit
Der Fall zeigt, wie wichtig die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Infektiologen, Gynäkologen und Pädiatern ist und wie entscheidend es sein kann, sich frühzeitig um Unterstützung zu bemühen. Besonders dramatisch an diesem Fall ist nicht nur, dass die Infektion des Kindes mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte verhindert werden können, sondern auch, dass das Kind zu Beginn seiner Therapie beinahe am Ende seiner therapeutischen Optionen angekommen ist und dies vor dem Hintergrund einer potenziell lebensbegleitenden Therapie.
Wer am Ende wo in der Behandlungskette welche Fehler gemacht hat, wird vielleicht im weiteren Verlauf des Prozesses geklärt werden können. Am vorläufigen Ergebnis und den generationenübergreifenden Folgen ändert sich jedoch nichts. Das Kind ist infiziert und blickt einer langen Therapie mit unklaren Folgen und ungewissem Ausgang entgegen. Viele weitere Fehler verträgt dieser Fall höchstwahrscheinlich nicht. Allan Brolund