Aisha-N. Ahmad, Klaus-J. Weber und Phil C. Langer, Frankfurt
HIV im Kontext von Migration und Flucht

Flüchtlinge haben häufig eine traumatische Vergangenheit. Die HIV-Infektion stellt eine zusätzliche enorme gesundheitliche wie psychosoziale Belastung dar.

Flucht und Migration sind die bestimmenden Themen in den letzten Monaten in Deutschland. Waren es 2007 ungefähr noch 30.000 Anträge auf Asyl, die gestellt wurden, waren es 2014 bereits 203.000. 2015 wurden in Deutschland insgesamt 1,1 Millionen geflüchtete Menschen registriert und 476.649 Asylanträge gestellt. Geflüchtete aus Syrien mit 158.657 Erstanträgen (36% aller Erstanträge), Albanien mit 53.805 (12% aller Erstanträge) und Kosovo mit 33.427 (8% aller Erstanträge) stellten die Herkunftsländer dar, aus denen die meisten Erstanträge gestellt wurden (s. Tabelle 1).

Syrien, Arabische Republik 158.657
Albanien 53.805
Kosovo 33.427
Afghanistan 31.382
Irak 29.784
Serbien 16.700
Eritrea 10.876
Mazedonien 9.083
Pakistan 8.199
Ungeklärt 11.721

Tab. 1

Es sind damit vor allem bewaffnete Konflikte wie etwa Kriege und Bürgerkriege, die politische Verfolgung aufgrund des Glaubens, der Religion, der sexuellen Orientierung und der ethnischen Zugehörigkeit, strukturelle Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, aber auch Ressourcenknappheit sowie Folgen des Klimawandels und Naturkatastrophen, die Menschen dazu zwingen aus ihrer Heimat zu fliehen. In den großen und diversen Gruppen von Menschen, die nach Deutschland kommen, befinden sich auch Menschen mit besonderer Schutzbedürftigkeit, etwa Schwangere, unbegleitete Minderjährige, Menschen mit Behinderungen oder chronischen und schweren Infektionserkrankungen, auch mit HIV und HCV. Während einige Menschen bereits vor der Einreise von ihrer HIV-Infektion wissen, erfahren andere erst in Deutschland davon. Hinzukommen diejenigen, die sich erst in Deutschland mit HIV-Übertragungsrisiken konfrontiert sehen.

Für das Jahr 2014 stellte das RKI 3.525 HIV-Neudiagnosen fest. Werden diese Neudiagnosen mit ausreichenden Angaben zum Herkunftsland in der Analyse differenziert, so stammten 64% aus Deutschland (n=2.111), 15% aus Subsahara-Afrika (n=491) und 14% (n=451) aus Europa. Dabei stieg der relative Anteil der HIV-Neudiagnosen mit der Angabe Herkunft Subsahara-Afrika von 10% (n=301) in 2013 auf 15% (n=491) in 2014 an. Die Differenzierung nach Infektions- und Herkunftsregion verdeutlicht zudem Unterschiede zwischen den Geschlechtern: so finden sich in den HIV-Neudiagnosen nicht-deutscher Herkunft 38% Frauen (n=456); von diesen Frauen kam mit einem relativen Anteil von 62% der größte Teil aus Subsahara-Afrika (n=284). Bei den Männern nicht-deutscher Herkunft machte der Anteil aus Subsahara-Afrika hingegen 28% (n=207) aus.


Gesamtzahl 83.400 (77.000 – 91.200)
Inland Männer 68.400 (63.200 – 74.700)

Frauen 15.100 (13.700 – 16.800)

MSM 53.800 (49.800 – 58.500)

Heterosexueller Sex 10.500 (9.500 – 11.600)

IVDU 7.900 (9.500 – 11.600)

Blutprodukte 450
Ausland Afrika 5.500 (4.900 – 6.400)

Europa 2500 (2.200 – 2.800)

Asien 1.800 (1.600 – 2.100)

Amerika & Australien 5.500 (4.900 – 6.400)

Tab. 2

Erstaufnahmeeinrichtungen

Die vorliegenden Daten sind indes zu wenig differenziert, um genaue Angaben über die Prävalenz von HIV bei Geflüchteten zu machen und die spezifischen Bedürfnisse für Versorgung und Prävention bestimmen zu können. Auch wenn die Gruppe HIV-Positiver unter den Geflüchteten vermutlich relativ klein ist, gerät sie zunehmend in den Fokus all jener, die im HIV-Bereich tätig sind. Im Folgenden ist es das Anliegen der Autor*innen, die Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen darzustellen und damit auf die neuralgischen Punkte zu verweisen, an denen Handlungsbedarf besteht. Diese Überlegungen basieren auf qualitativ-empirischen Untersuchungen, die von den Autor*innen durchgeführt wurden.

Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen, dass vor allem in den Erstaufnahmeeinrichtungen Bedarf an Aufklärungs- und Präventionsarbeit besteht und Hinweise auf Angebote der organisierten Selbsthilfe notwendig sind. In der Regel findet eine routinemäßige Untersuchung auf HIV in den Erstaufnahmeeinrichtungen im Rahmen der Erstuntersuchung auf übertragbare Krankheiten nicht statt. Indes werden allerdings in Bayern und Sachsen HIV-Tests in den Erstaufnahmeeinrichtungen durchgeführt. Der Nationale AIDS-Beirat (NAB) konstatierte im Oktober 2015 in einer Stellungnahme, dass routinemäßige HIV-Antikörper-Tests nicht den anerkannten Standards der Durchführung entsprechen. Im Kontext der Untersuchung in Erstaufnahmeeinrichtungen sei weder von einer informierten Zustimmung noch von einer ausreichenden Vertraulichkeit auszugehen und lehnt daher routinemäßige HIV-Tests für Asylsuchende ausdrücklich ab. Demgegenüber sind Organisationen der Selbsthilfe, wie etwa regionale Aidshilfen, u.E. durch ihre Angebote zur anonymen Schnelltestung vielfach in der Lage, die Bedingungen, die durch den NAB gefordert werden, zu gewährleisten.

Die Befunde einer Case Study, die in einer hessischen Erstaufnahmeeinrichtung durchgeführt wurde, zeigen, dass Betroffene häufig ihren positiven Serostatus nicht offenlegen, da sie Diskriminierungen u.a. in den Einrichtungen befürchten und davon ausgehen, dass sich ihre HIV-Infektion negativ auf ihren Asylantrag auswirken könnte. Zudem wird deutlich, dass sich der Zugang zur medizinischen Behandlung in den Erstaufnahmeeinrichtungen oftmals schwierig gestaltet. Unter dem Druck, den Verbleib in der Erstaufnahmeeinrichtung möglichst kurz zu halten und der bürokratischen Hürden einer Kostenübernahme, kann die HIV-Therapie im Falle einer positiven Diagnose häufig nicht zeitnah begonnen werden. Ebenso werden HIV-spezifische Fragen nicht ausreichend beantwortet. Betroffene, vor allem jene, die erst in Deutschland von ihrer Infektion erfahren haben, fühlen sich mitunter allein gelassen. Beratungen durch Aidshilfen, werden zum Zeitpunkt der Diagnose und im weiteren Verlauf als aufbauend und hilfreich empfunden. Vor allem aber wird ohne eine Intervention etwa von Seiten der Aidshilfen bei der Zuweisung auf die Landkreise und Kommunen durch die Behörden nur selten bedacht, ob in den zugewiesenen Landkreisen eine angemessene HIV-spezifische medizinische und/oder psychosoziale Versorgung möglich ist. In zugewiesenen, zentrumsfernen Kommunen ist zudem meistens auch keine soziale Anbindung an Organisationen möglich, die für nicht heteronormativ liebende und lebende Geflüchtete eine wichtige Ressource darstellen können.

Wünsche und Bedürfnisse

Anhand von Interviews mit zwei HIV-positiven Männern, die in Deutschland Asyl beantragt haben, sollen die Herausforderungen und Wünsche zur besseren Versorgung von Geflüchteten Menschen in Deutschland verdeutlicht werden.

Thomas, 51 Jahre

Thomas, 51 Jahre alt, beantragte vor etwa drei Jahren in Deutschland Asyl, da er in seiner Heimat wegen seiner sexuellen Orientierung verfolgt wurde. Er hatte bereits vor seiner Einreise nach Deutschland Kenntnis von seiner positiven HIV-Diagnose. Im Interview erzählt Thomas entsetzt über die chaotischen Zustände in der Erstaufnahmeeinrichtung und beanstandet, dass Aidshilfen im Gegensatz zu anderen Organisationen, wie der Diakonie und Caritas, dort nicht präsent seien. Er selbst fand den Weg zur Aidshilfe durch die schwule Community vor Ort. Dort nahm er insbesondere Beratungen zu asylsozialrechtlichen Fragen in Anspruch und fing schnell an, sich ehrenamtlich in verschiedenen Kontexten zu engagieren. Im Interview thematisiert Thomas wiederholt den großen Bedarf an Aufklärung und Prävention für Asylbewerber*innen. Um die Arbeit der Aidshilfe präsenter zu gestalten, plädiert Thomas für ein Peer-to-Peer-Konzept, indem andere Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung die Einrichtungen aufsuchen und die Beratungsarbeit leisten sollten. In einem Peer-to-Peer-Konzept sieht Thomas einen hohen identifikatorischen Moment, da ähnliche Erfahrungen geteilt und das Überbringen der Botschaft erleichtert werden.

Darius, 51 Jahre

Darius, ebenfalls 51 Jahre alt, musste vor mehr als zwei Jahrzehnten aufgrund von politischer Verfolgung aus seiner Heimat nach Deutschland fliehen und hat erst in Deutschland von seiner HIV-Infektion erfahren. Auch er moniert, dass die organisierte Selbsthilfe das Thema Migration in der Vergangenheit stark vernachlässigt habe. Er berichtet von positiven Erfahrungen durch Peer-to-Peer-Konzepte in der Arbeit in Einrichtungen für Asylbewerber*innen. Nach Schulungen zu asylsozialrechtlichen Grundlagen stellte er in Unterkünfte von Asylbewerber*innen u.a. die Rechtslage in Bezug auf das Asylsozialrecht dar und mögliche Anlaufstellen. Diese Arbeit betrachtet Darius als notwendig, um weiteren Benachteiligungen entgegenzuwirken und damit Betroffene die ihnen zustehenden Rechte in Anspruch nehmen können. Obwohl das Peer-to-Peer-Konzept seiner Wahrnehmung nach erfolgreich war, wurde es nach einiger Zeit eingestellt. Daher beklagt er, dass die Strukturen in der Arbeit mit Migrant*innen nicht nachhaltig ausgerichtet seien.

Fazit

Die Befunde der empirischen Untersuchungen zeigen, dass von Betroffenen ein Engagement durch Selbsthilfeorganisationen in Erstaufnahmeeinrichtungen, wie Aufklärungs-, Beratungs-, und Präventionsarbeit mit dem Hinweis auf Angebote, etwa zu anonymen HIV-Tests in einem geschützten Rahmen, wie ihn beispielsweise Aidshilfen bieten können, gewünscht wird. Zugleich weisen Betroffene selbst ein hohes Maß an Engagement und Potenzial zum Umgang mit den Herausforderungen auf. Die Interviews verdeutlichen unterdessen auch, dass die Problemlage um HIV und Migration sich nur bezüglich der Zunahme ihrer Anzahl in den vergangenen Jahren verändert hat. Die Wünsche und Bedürfnisse indes sind die gleichen geblieben. HIV-positive Geflüchtete stellen eine hoch vulnerable Gruppe dar. Zusätzlich zu den Traumata durch Gewalt und Flucht befinden sie sich in einer prekären gesundheitlichen Situation. Allerdings scheuen sie sich häufig aufgrund von antizipierter Diskriminierung und Stigmatisierung davor ihre HIV-Infektion offenzulegen, auch weil sie befürchten, abgeschoben zu werden. Damit aber die HIV-Therapie rechtzeitig begonnen werden kann und eine längerfristige gelingende Versorgung durch Zuweisung in entsprechende Landkreise und Kommunen möglich ist, gilt es strukturell verankerte Maßnahmen zu entwickeln, durch die zum einen bereits in den Erstaufnahmeeinrichtungen auf die Angebote zur Beratung und das Asylsozialrecht verwiesen wird und zum anderen die Zuweisung in die Landkreise und Kommunen beeinflusst werden kann. Das Peer-to-Peer-Konzept erscheint vor diesem Hintergrund vielversprechend, auch als Instrument des Empowerments der daran Beteiligten. Die Zusammenarbeit und Vernetzung mit anderen Organisationen der Flüchtlingshilfe und Initiativen der Selbsthilfe, wie etwa queeren Vereinen muss intensiviert werden, liegen hier doch Erfahrungen und Kompetenzen vor, die die traditionelle Aidshilfe nicht besitzt. Auch ist eine enge Vernetzung der Organisationen und Vereinen untereinander sowie mit den zuständigen Behörden ist notwendig.

Die vor allem seit 2015 forcierte Migrationsdynamik an den Grenzen und in Europa wird auch die gesellschaftliche Situation in Deutschland unweigerlich und auf Dauer tiefgreifend verändern. Für Hunderttausende der Geflüchteten gilt, was der Soziologe Georg Simmel vor über hundert Jahren über „den Fremden“ in der Moderne schrieb: Er sei jemand, der heute kommt und morgen bleibt. Das heißt aber auch: Er gehört zu uns. Er ist konstitutiver Teil dessen, was Deutschland ist und sein wird. Die Forderung nach „Integration“ bleibt in dieser Hinsicht folgenlos, wenn sie nicht auch eine Teilhabe von Menschen mit Fluchterfahrung an der gesundheitlichen Versorgung beinhaltet. So sagte der kanadische Premierminister Trudeau bei der Ankunft von Geflüchteten: „Tonight, they step off the plane as refugees. But they walk out of this terminal as permanent residents of Canada, with social insurance numbers, with health cards, and with an opportunity to become full Canadians.” Für Deutschland stellt sich letztlich weniger die Frage, ob wir das schaffen, sondern ob wir das wollen.


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