Streiflicht
„Gierlead“ oder warum wir TAF erst jetzt bekommen
1996 berichtete der Spiegel über den tschechischen Forscher Antonin Holy und die von ihm bereits 1984 patentierte Substanz PMPA, die im Tierversuch bei Affen wirksam gegen SIV war. Da PMPA kaum oral bioverfügbar war, entwickelte das Unternehmen Gilead, das inzwischen die Rechte an der Substanz hatte, ein Prodrug: „Bis-POC-PMPA“ – heute als Teno-fovir-Disoproxilfumarat (TDF) bekannt. 2001 erfolgte dann die erste Zulassung von TDF (Viread®). Schon in den klinischen Studien traten gelegentlich renale Toxizitäten auf, in Einzelfällen bis hin zum Fanconi-Syndrom.
Stop der Entwicklung
Protest bei der WeltAidsKonferenz 2014
Das Unternehmen machte sich also auf die Suche nach einer besser verträglichen Formulierung. Bereits 2000 begann die klinische Entwicklung von Tenofovir-Alafenamid (TAF), das bei besserer Wirksamkeit weniger Nieren- und Knochentoxizität verursachen sollte. Als 2004 nach ermutigenden Ergebnissen die nächste Runde der klinischen Entwicklung beginnen sollte, stoppte Gilead diese urplötzlich. TDF wurde ein Blockbuster mit bis zu 11 Milliarden US$ Umsatz pro Jahr. Die Ergebnisse der ersten TAF-Studien nicht veröffentlicht.
Lange Verzögerung
Sechs Jahre später, also 2010, änderte Gilead seine Meinung. Inzwischen wurde die PrEP in ersten Studien untersucht und das Ende des Patents für TDF zeichnete sich langsam ab (2017-2018). Also wurden die Studien an TAF wieder aufgenommen. In den USA forderte die FDA Gilead auf, eine Zulassung von Truvada® (TDF+FTC) für die PrEP zu beantragen. In Europa zögerte das Unternehmen die Zulassung maximal hinaus bis kurz vor Auslauf des Patents.
Strategische Kehrtwende
Gleichzeitig änderte sich die Marketing-Strategie des Unternehmens: Wurden bisher auf Kongressen und Symposien die renalen Nebenwirkungen von TDF eher heruntergespielt, wurden sie nun in den Vordergrund gerückt. Ärzte sollten ihre Patienten schnellstmöglich auf die „renovierten“ Kombinationen Genvoya®, Descovy® (und demnächst Odefsey®) umstellen. Gleichzeitig wird die Monosubstanz wohl nicht zur Behandlung der HIV-Infektion auf den Markt kommen, sondern nur zur Behandlung der Hepatitis B.
Maximaler Gewinn
Im Rückblick macht alles Sinn: Die Verzögerung der Entwicklung von TAF, die Verzögerung der Zulassung von Truvada® für die PrEP: Dies führte zu einer Maximierung der Einkünfte erstens durch die lange Vermarktung von TDF, zweitens der Möglichkeit, das „abgelaufene“ TDF im Markt für die Prävention neu zu positionieren (TAF bis auf weiteres keine Zulassung für die PrEP haben wird) und drittens TAF als die besser verträgliche Alternative zu verkaufen – inklusive der „single tablet regimens“, die ganz zufällig auch dazu führen, dass die komplette Therapie aus dem Hause Gilead kommt.
War das alles ein glücklicher Zufall? Man glaubt es kaum, insbesondere da die Entwicklung von TAF bewusst um etwa sechs Jahre verzögert wurde. Hier wurde (einmal mehr) Gewinnmaximierung auf Kosten des Patientenwohls praktiziert.
Mehr Goliath als David
Gleichzeitig versucht sich Gilead immer noch als kleine „Garagenfirma“ darzustellen, die als der gute David gegen die anderen Pharma-Goliaths kämpfen muss. Tatsächlich war Gilead bereits 2014 gemessen am Umsatz der 9. größte Pharmakonzern weltweit. Dieser Umsatz wird mit vergleichsweise wenigen Mitarbeitern generiert. Das führt dazu, dass die einzelnen Mitarbeiter inzwischen schuften müssen wie Blondinen am Hafen beim Einlauf der spanischen Armada. Haben Sie sich nicht auch schon gewundert, welch eine hohe Mitarbeiter-Fluktuation momentan bei Gilead herrscht? Sicher steht bei Gilead der Mensch im Zentrum des Interesses. Leider handelt es sich dabei aber weder um den Patienten noch um den einfachen Mitarbeiter, sondern viel mehr um den Aktionär und den CEO.
P.S. Noch ein kleines Detail am Rande: Sieht man sich die Strukturformeln von TAF und Sofosbuvir (Sovaldi®, eine weitere Gilead-Cash-Cow) an, stellt man fest, dass beide die gleiche Phosphoramidat-Prodrug-Technologie verwenden. Ob das Zufall ist oder ob die beiden beteiligten Firmen schon vor der Übernahme von Pharmaset durch Gilead eng zusammenarbeiteten, ist schwer zu beurteilen.