Interview Mit Prof. Pietro Vernazza, Kantonsspital St. Gallen, Schweiz
PrEP: Kann gute Absicht schädlich sein?
Pietro Vernazza
Kantonsspital
St. Gallen, Schweiz
Die PrEP zur täglichen Einnahme ist in Deutschland vor wenigen Monaten zugelassen worden. Wie schätzen Sie die Wirksamkeit ein?
Prof. Vernazza: Wir gehen davon aus, dass die PrEP, sofern sie richtig eingenommen wird, genauso gut ist wie ein Kondom, das richtig angewandt wird.
Nun zeigen ja verschiedene Anwendungsstudien, dass es mit der täglichen Einnahme nicht immer so klappt...
Prof. Vernazza: Das ist richtig und das ist ein Problem. In der IPERGAY-Studie hat man deshalb etwas anderes versucht, nämlich die PrEP „bei Bedarf“. Die Probanden sollten 2 Tabletten vor und dann täglich 1 Tablette bis 1 Tag nach kondomfreiem Sex ein-nehmen. Das Problem bei der Studie war, dass die Probanden recht häufig Tabletten einnahmen, rund 15 Tabletten pro Monat. Es war eher eine „fast immer“ PrEP.
Und wie zuverlässig ist die Kontakt-bezogene PrEP?
Prof. Vernazza: Wir wissen, dass die PrEP bei täglicher Einnahme sicher schützt. Sinkt die Einnahme unter 50%, d.h. weniger als jeden zweiten Tag, sinkt der Schutz auf 40-50%. Bei der „PrEP nach Bedarf“ sind wir aufgrund der Studienlage unsicher, wie gut der Schutz tatsächlich ist, insbesondere wenn nur kurz vor dem Date mit der PrEP begonnen würde. Das heißt, die Studie kann uns nicht sagen, was passiert, wenn man die Tabletten nur für einen Kontakt nimmt. Zum anderen wurde die Studie vorzeitig beendet und zwar bereits nach einem Viertel der geplanten Transmissionen. Ob die Einnahme der PrEP auch bei längerfristiger Beobachtung noch so gut funktioniert, wissen wir nicht.
Wie sollte man die PrEP einnehmen? Was empfehlen Sie?
Prof. Vernazza: Ich sehe die PrEP als eine gute Strategie für Personen, die in absehbarer Zeit Risikokontakte haben werden, z.B. wenn ein Urlaub oder ein Wochenende geplant ist. Vermutlich genügt es, wenn man mit der PrEP 2-3 Tage vorher beginnt. Und dann empfehle ich die regelmäßige tägliche Einnahme bis zwei Tage nach Ende der „Risikosaison“.
Ein Punkt der PrEP-Kritik ist die sogenannte Risikokompensation. Deshalb sollte eine Präventionsberatung gemacht werden. Ist es aber nicht unrealistisch zu glauben, jemand der eine Tablette zum Schutz vor HIV nimmt, wird zusätzlich noch ein Kondom benutzen?
Prof. Vernazza: Ich befürchte, da haben Sie recht. Wir haben in einigen Studien inzwischen auch gesehen, dass STI nach Einführung der PrEP ansteigen. STI wie Gonorrhoe oder Lues kann man heilen, ja, aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass dieser Anstieg ein Indikator für eine Verhaltensänderung in der Community ist. Wenn sich hier der Trend zum Verzicht auf das Kondom durchsetzt und auch Männer ohne PrEP Kondome seltener benutzen, steigt nicht nur die Häufigkeit von STI, sondern auch das Risiko für HIV-Transmissionen.
Ist die PrEP also kein geeignetes Mittel die HIV-Epidemie zu stoppen?
Prof.
Vernazza: Vermutlich nicht. In
den USA ist die PrEP bereits seit einigen Jahren erhältlich und ein
Rückgang der
Infektionszahlen ist nicht in Sicht. Die Effizienz
der PrEP, also die Wirksamkeit der Maßnahme in einer Population, die
HIV-Transmission zu senken, ist nicht bewiesen.
Dazu gibt es noch keine Studien.
In Deutschland wird die PrEP von der DAIG, dagnä und DAH befürwortet. Was sagt die Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit (EKSG)?
Prof. Vernazza: Die EKSG hat ihre Position Anfang dieses Jahres veröffentlicht. Sie bewertet die PrEP als sinnvolle Maßnahme für einen bestimmten Zeitraum für MSM mit erheblichem Risiko einer HIV-Infektion, für die der konsistente Gebrauch von Kondomen keine Option darstellt. Für eine breite Empfehlung fehlen unserer Meinung nach die Daten. Auch WHO und EASC empfehlen die PrEP nur bei „substantiellem Infektionsrisiko“ definiert als eine HIV-Inzidenz von mehr als 3 pro 100 Personenjahren. In der Schweiz liegt diese Rate bei MSM derzeit bei 0,3 pro 100 Personenjahren, in IPERGAY lag sie vergleichsweise bei 9%.
Einige Punkte gehen bei der Diskussion um die PrEP regelmäßig unter. So werden die relevanten Nebenwirkungen der Medikamente immer wieder runtergespielt. Weiter zu berücksichtigen wäre die Interessenslage der Organisationen, die PrEP empfehlen. Die Industrie hat ein Interesse am Verkauf von Medikamenten und daher auch an der PrEP, selbst wenn das öffentlich manchmal etwas anders klingt. Daher bin ich der Meinung, man sollte bei Empfehlungen, Leitlinien usw. nicht nur für die beteiligten Personen, sondern auch für die Organisationen verpflichtend offenlegen, wo, wann und für was Gelder geflossen sind. Seit einigen Jahren kann man solche Zuwendungen der Industrie auch online abrufen. Da erkennt man rasch einige mögliche Interessenskonflikte.