Siegfried Schwarze, Berlin
Alt werden: Mit, trotz oder wegen HIV?

„Inflammaging“, „Immuno-Senescence“, „Accelerated Aging“ – die Liste der Stichworte zum Thema HIV und Alter könnte aus einer Marketingabteilung stammen. Doch was ist eigentlich dran? Altern Menschen mit HIV tatsächlich schneller bzw. anders?

Zunächst einmal sollte man sich bewusst machen, dass Alter ein Privileg ist, das den meisten Menschen auf diesem Planeten nicht zu Teil wird und das für Menschen mit HIV noch vor 30 Jahren völlig utopisch war.

Schaut man sich die Studien zum Themaan, könnte man leicht den Eindruck bekommen, dass dennoch alles ganz furchtbar sei, Menschen mit HIV rapide vergreisen, dement werden und sich nur noch mit Mühe und brüchigen Knochen

durchs Leben schleppen. Doch ganz so einfach ist es leider nicht. Denn in vielen dieser Studien werden wichtige Faktoren schlicht ignoriert:

FALSCHE STUDIENGRUPPEN

Auch Genussmittel (in Maßen!) können das  Alter erträglicher machen - meint der Autor  dieses Beitrags
Auch Genussmittel (in Maßen!) können das Alter erträglicher machen - meint der Autor dieses Beitrags

Oft werden einfach Menschen mit HIV verglichen mit Menschen ohne HIV, ohne dass weiter differenziert wird, ob die Menschen mit HIV behandelt sind und wenn ja, ob erfolgreich (d.h. Viruslast unter der Nachweisgrenze).

Außerdem macht es einen großen Unterschied, wie lange die HIV-Infektion unbehandelt war, wie hoch zu dieser Zeit die Viruslast war und wie der schlechteste Immunstatus vor Behandlung war. All dies sind ganz entscheidende Einflussfaktoren – nicht nur für das aktuelle Befinden und die Prognose, sondern auch für den Zustand des Immunsystems unter erfolgreicher Behandlung und für den daraus resultierenden Alterungsprozess.

ALTE KOHORTEN

In den Studien werden oft Kohorten angeführt, die seit der Einführung der HAART (oder sogar seit Einführung von AZT) beobachtet werden. Damit stammen viele der in diese Untersuchungen eingeflossenen Daten von Menschen, die noch mit den überkommenen Wirkstoffen mit hohem Potenzial für mitochondriale Toxizität behandelt wurden, teilweise über viele Jahre. Zerit® (Stavudin, d4T), Hivid® (Zalcitabin, ddC), Videx® (Didanosin, ddI) und Retrovir® (Zidovudin, AZT) waren alles Substanzen der frühen Jahre. Natürlich haben sie vielen Menschen das Leben gerettet, aber dafür musste man erhebliche Nebenwirkungen in Kauf nehmen. Diese Substanzen schädigen, wie wir heute wissen, die Mitochondrien und führen neben Symptomen wie Lipoatrophie, Neuropathie und Pankreatitis eben auch zu einer Beschleunigung von Alterungsprozessen. Die neueren Nukleosidanaloga sind, zumindest bisher, in dieser Hinsicht wenig verdächtig.

Neue HIV-Diagnose bei Generation 50+

Jeder sechste Patient mit einer neuen HIV-Diagnose ist über 50 Jahre alt. In den Jahren 2004 bis 2015 wurden im Europäischen Wirtschaftsraum 312.000 Erstdiagnosen bei Erwachsenen gestellt. 5.076 der Betroffenen waren ältere Menschen, definiert als
50 Jahre oder älter. Es stecken sich somit immer noch mehr junge Menschen an, doch bei den Älteren geht die Kurve steiler nach oben. Deutschland ist eines der 16 Länder, in denen HIV-Infektionen bei älteren Personen signifikant zugenommen haben. Hierzulande stieg die Rate der HIV-Neudiagnosen bei jungen Menschen zwischen 2004 und 2015 um vier Prozent, bei den Älteren aber um mehr als acht Prozent.

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© Quelle: ecdc.europa.eu

Mehr Heterosexuelle

Aber es gibt noch weitere Unterschiede. So fanden (und finden sich) die meisten HIV-Neuinfektionen wenig überraschend bei jungen Männern, die mit Männern Sex haben. Ältere Menschen dagegen haben sich häufiger über heterosexuelle Kontakte infiziert. Zudem ist die HIV-Infektion bei den Älteren oft weiter fortgeschritten. 63% der 50+-Jährigen sind „Late Presenter“.
Dies deutet darauf hin, dass heterosexuelle Menschen jenseits der Lebensmitte sich nicht als gefährdet wahrnehmen und weniger auf Safer Sex achten. Möglicherweise verliert das Kondom auch zusammen mit dem Thema ungewollte Schwangerschaft mit zunehmendem Alter an Bedeutung. Auf jeden Fall rät die europäische Gesundheitsbehörde ECDC, spezielle Strategien für Präventions- und Test-Strategien für ältere Menschen zu entwickeln.

Falsche Vergleichsgruppe

Menschen mit HIV unterscheiden sich von Menschen ohne HIV in mehr Dingen als eben nur HIV. Glaubt man den soziologischen Daten, so führen Menschen mit HIV (Leser dieses Artikels sind natürlich ausgenommen) im Durchschnitt ein etwas genussbetonteres und risikofreudigeres Leben als die Allgemeinbevölkerung. Auf gut Deutsch: Mehr Sex, mehr Drugs, mehr Rock’n Roll. Das soll auch gar nicht wertend sein, aber ein solcher Lebensstil birgt eben langfristig auch ein erhöhtes Risiko für Begleiterkrankungen oder zumindest Begleiterscheinungen, die sich auf den Alterungsprozess auswirken können. Selbst innerhalb der Gruppe von Menschen mit HIV muss hier unterschieden werden, denn wahrscheinlich macht es langfristig einen Unterschied, ob man seine HIV-Infektion durch eine medizinische Intervention (z.B. kontaminierte Blutprodukte), durch i.v. Drogenkonsum oder durch Sex erworben hat. Denn diese Gruppen unterscheiden sich eben auch in ihrer Lebensführung und den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken. Auch ob Studien in den USA, Europa oder Afrika/Asien mit ihren völlig unterschiedlichen Gesundheitssystemen durchgeführt wurden, dürfte die Ergebnisse beeinflussen. All dies wird bisher in den wenigsten Studien unterschieden.

Ignorieren der Begleitumstände

Menschen mit HIV haben, bedingt durch ihre Infektion, oft eine völlig andere Erwerbsbiographie. Gerade bei Menschen, die schon länger infiziert sind, findet man abgebrochene Ausbildungen, schlecht bezahlte Jobs und frühe Verrentung. Dies kann dann zu Isolation, Langeweile und Vereinsamung führen. Dass solche Faktoren, ebenso wie die bei Menschen mit HIV öfters auftretende Depression, das Abschneiden bei neurokognitiven Tests verschlechtert, überrascht nicht, hat aber wohl wenig direkt mit HIV zu tun.

Kein Blick für das „große Ganze“

Wahrscheinlich sind nur wenige Gruppen der Bevölkerung medizinisch so gut versorgt wie Menschen mit HIV. Welcher, sagen wir mal 30jährige Mann geht denn alle drei bis sechs Monate zum Arzt, bekommt eine Ganzkörperuntersuchung und ausführlichste Laborbefunde? Und sobald ein Problem auftaucht, wird sofort reagiert. Es gibt jetzt schon Befunde, die darauf hindeuten, dass eine Untergruppe der Menschen mit HIV (Viruslast dauerhaft unter 50 Kopien/ml, über 500 CD4/µl, ohne Aids-definierendes Ereignis und ohne i.v. Drogenkonsum) eine höhere Lebenserwartung hat als die Allgemeinbevölkerung. Nicht, weil HIV so gesund ist, sondern schlicht wegen der intensiven medizinischen Betreuung und weil viele Menschen mit HIV ein stärkeres Bewusstsein für ihre Gesundheit haben und deshalb z.B. mit dem Rauchen aufhören, sich bewusster ernähren und mehr Sport treiben.

Last not least

Studien, die „dramatische“ Ergebnisse liefern, sind einfach interessanter und haben eine bessere Chance veröffentlicht zu werden als Studien, die keine großen Unterschiede finden. Und in Zeiten des „publish or perish“ in der es oft auf die Anzahl der Publikationen ankommt, um weitere Forschungsgelder zu akquirieren oder eine Vertragsverlängerung zu bekommen, machen sich Studien, die Aufmerksamkeit erregen, einfach besser.

All diese Faktoren führen dazu, dass man den Alterungsprozess von Menschen mit HIV wesentlich differenzierter betrachten muss, als dies bisher geschieht.

Ja, Menschen die seit den 1980er Jahren infiziert sind, toxischen Nukleosidanaloga ausgesetzt waren und möglicherweise Aids-definierende Erkrankungen hatten, haben vermutlich tatsächlich ein Risiko für vorzeitige Alterungsprozesse. Bei Menschen, die schon relativ kurz nach der Infektion mit modernen Kombinationen behandelt wurden und die einen halbwegs gesunden Lebenswandel pflegen, dürften die Auswirkungen ihrer HIV-Infektion auf den Alterungsprozess vernachlässigbar sein.

Doch egal, wie der Alterungsprozess verläuft, eine Herausforderung bleibt bestehen: Diesen Prozess so zu gestalten, dass Lebensqualität und Menschenwürde erhalten bleiben. Vor allem die letzten Jahre bedeuten für viele Menschen – egal ob mit oder ohne HIV – ein Leben in Pflegeeinrichtungen. Und hier besteht definitiv ein Verbesserungsbedarf.


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