Hiv und Alter
Da kommt was auf uns zu!
„Sie sind HIV-positiv – machen sie sich noch ein paar schöne Jahre.“ – Mit dieser Botschaft haben viele Menschen in den 80er und 90er Jahren von ihrer HIV-Infektion erfahren. Viele haben dementsprechend gelebt.
Heute müsste es eher heißen: „Sie sind HIV-positiv. Wie sieht es denn mit Ihrer Altersabsicherung aus? Und haben sie sich schon Gedanken über eine geeignete Seniorenresidenz gemacht?“
Was für ein Glück: Mit HIV kann man heute alt werden. Laut Robert Koch-Institut lag der Anteil der über 50-Jährigen an den Menschen mit HIV im Jahr 2016 bei rund 40%, im Jahr 2030 könnte er bei drei Vierteln liegen. Damit ist das Altern auch ein Thema für Menschen mit HIV und die Aidshilfen – mit allen Segnungen und Herausforderungen.
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Broschüre „Keine Angst vor HIV“ der Deutschen AIDS-Hilfe für Pflegepersonal (auch als Download: http://bit.ly/KeineAngstvorHIV), Material speziell für die Altenhilfe wird zurzeit erstellt.
Beispielhafte Projekte:
München: Rosa Alternative, Wohngemeinschaft für schwule ältere Männer mit und ohne HIV (50+) www.rosa-alter.de
Lebensort Vielfalt in Berlin https://www.schwulenberatungberlin.de/lebensort-vielfalt
LÜSA: Die bisher einzige Einrichtung, die speziell auf ältere drogengebrauchende Menschen ausgerichtet ist www.luesa.de/
Mehrere Aidshilfen planen eigene Einrichtungen, z.B. in Köln, oder kooperieren mit Einrichtungen und Verbänden.
Multiple Problemlagen
Neben Lebensperspektiven geraten Menschen mit HIV dabei häufig in multiple Problemlagen. Das zeigt die Studie 50plusHIV. Frühzeitig abgebrochene Erwerbsbiografien und persönliche Belastungen infolge der HIV-Infektion führen bei vielen zu Armut, Stigmatisierung und Diskriminierung, zu psychischen Erkrankungen und oft auch Einsamkeit (siehe Studie 50plusHIV Seite 39).
Pflegesystem nicht vorbereitet
Während HIV-Schwerpunktmediziner_innen sich schon seit einigen Jahren verstärkt mit Altersmedizin, Komorbiditäten und neuen Wechselwirkungen auseinandersetzen, ist das Altenhilfesystem auf Menschen mit HIV noch lange nicht vorbereitet. HIV löst hier dieselben irrationalen Ängste aus, die wir auch aus dem sonstigen Pflegebereich kennen.
Bewirbt man sich offen HIV-positiv um einen Platz in der Seniorenresidenz, fallen oft Sätze wie: „So jemanden können wir nicht bei uns aufnehmen, da bedarf es doch besonderer Hygienemaßnahmen …“ „Das müssten wir ja allen Bewohnern mitteilen …“ oder sogar „Da würden ja andere ausziehen, das wäre geschäftsschädigend.“
Dabei bedarf es bekanntlich weder im alltäglichen Zusammenleben, noch in der Pflege besonderer Hygiene- oder Schutzmaßnahmen. Kommt Sexualität ins Spiel, schützen die HIV-Therapie und Kondome auch im Alter. Aber das Thema Sexualität bleibt ein Tabu und damit mit diffusen Ängsten behaftet.
Sozialrechtliche Probleme
Hinzu kommen sozialrechtliche Probleme: In einer Gesellschaft, in der immer mehr auf private Vorsorge gesetzt werden muss, können Menschen mit HIV nach wie vor keine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen und bleiben auch von vielen Versicherungen für medizinische Zusatzleistungen wie Krankenhaustagegeld ausgeschlossen. Bei den privaten Pflegeversicherungen ist das Angebot sehr stark eingeschränkt, Risiko Lebensversicherungen gibt es nur mit Aufpreis. Um nur einige Beispiele zu nennen.
Fazit:
HIV potenziert Probleme des Älterwerdens. Da immer mehr Menschen mit HIV alt werden, kommt einiges auf uns zu. Es gilt, auf allen Ebenen Position zu beziehen und Entwicklungsarbeit zu leisten. Ansätze ohne Berührungsängste mit dem Thema HIV gibt es bereits im Bereich der schwul-lesbischen Altenarbeit. Auch erste Einrichtungen für Menschen mit HIV gibt es. Das Ziel kann jedoch nur sein, Berührungsängste und Stigmatisierung in allen Altenhilfeeinrichtungen abzubauen.
Studie
50plusHIV:
Endlich auch Daten für Deutschland
Stigma, Armut,
Einsamkeit
Welche Konsequenzen hat das Älterwerden HIV-Positiver für die gesundheitliche und pflegerische Versorgung, für Beratung und Selbsthilfe? Dieser Frage geht die Studie 50plusHIV der Goethe-Universität Frankfurt und der Freien Universität Berlin nach. Zugrunde liegen 907 Fragebögen und 40 vertiefende qualitative Interviews. Es ist die erste deutsche Studie, die sich mit den psychosozialen Implikationen der HIV-Infektion befasst.
Die Stichprobe
Die Fragebögen erreichten eine relativ „junge Gruppe“ der älteren Positiven (71% zwischen 50 und 59, 7% älter als 70 Jahre). Homo- und bisexuelle Männer machen mit 78% den größten Anteil aus, 12 Prozent entfallen auf heterosexuelle Frauen, acht auf heterosexuelle Männer. 11% der Befragten hatten einen Migrationshintergrund. 4% der Befragten haben sich über Blutprodukte infiziert, 3% geben das Tauschen von Spritzbesteck an.
Armutsgefährdung
Die Befragung deckt ein breites Spektrum an Themen ab: Dazu gehören die medizinische Versorgung und das Unterstützungssystem, die sozioökonomische, psychische und soziale Situation, Sexualität, Diskriminierungserfahrungen, Ängste und Zukunftswünsche.
Vor allem die psychosozialen Herausforderungen nehmen mit steigendem Alter weiter zu. Angst vor Altersarmut und einer unzureichenden Versorgung, Verlust von Selbständigkeit und zunehmende Komorbiditäten treffen zwar auch Menschen ohne HIV, potenzieren sich hier jedoch. Die Armutsgefährdungsquote ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung fast doppelt so hoch. Bei Frauen von 50 bis 64 liegt sie sogar bei 51% (Allgemeinbevölkerung: 19%). Grund sind unter anderem abgebrochene Erwerbsbiografien.
Stigmatisierung und Diskriminierung
Sehr eindrücklich belegen die Interviews eine Häufung von Multiproblemlagen. Neben Themen wie Diskriminierung und Einsamkeit spielen Selbststigmatisierung und Trauma eine große Rolle. Je mehr Stigmatisierung erlebt und internalisiert wird, umso stärker ist das psychische Wohlbefinden eingeschränkt. 34 Prozent der Befragten, die häufig Stigmatisierung erlebt haben, berichten von einer ängstlich-depressiven Symptomatik, bei hochgradig internalisiertem HIV-Stigma sogar 44 Prozent. Hinzu kommt: Je weniger offen Menschen mit ihrer HIV-Infektion umgehen, desto weniger erleben sie soziale Unterstützung. Die Befragten berichten, niemand würde sich um sie kümmern, wenn sie kurzfristig oder dauerhaft erkranken würden.
Bedarfsorientierte Versorgung nötig
Ältere Menschen mit HIV können dabei selbst nur wenig Einfluss auf ihre Situation nehmen: Der gesellschaftliche Umgang und vor allem das nicht auf HIV-Positive vorbereitete Altenhilfesystem führen zu Diskriminierungserfahrungen. Auch im Medizinsystem erleben die Patient_innen Diskriminierung. So entstehen Ängste und internalisiertes Stigma, teilweise werden Arztbesuche vermieden. Die Zufriedenheit mit der HIV-Behandlung und die Compliance sind in der erreichten Gruppe hingegen sehr hoch.
Die Studie zeigt eine spezifische Dringlichkeit an, eine bedarfsorientierte, diskriminierungsfreie Versorgung weiter zu entwickeln und das Alters- und Pflegesystem für die Bedürfnisse HIV-positiver Menschen zu sensibilisieren. Darüber hinaus bedarf es der Entwicklung neuer Konzepte des Älterwerdens – nicht-defizitorientiert, nicht-stigmatisierend, sondern „positiv“.