Johannes Bogner, München
HIV und Alter

Im Kontext der HIV-Infektion wird bereits ab 50 von „älteren“ Patienten gesprochen. Die HIV-Sprechstunde muss sich diesem Umstand anpassen und Rücksicht nehmen auf Begleiterkrankungen und Polypharmazie.
Die Anforderungen an die ärztliche Betreuung aber auch die Anforderungen an die antiretrovirale Therapie müssen der zunehmenden Multi-Morbidität und Poly-Pharmazie angepasst werden.

Im Kollektiv unserer Patienten der Infektions-Ambulanz an der Universitätsklinik in München ist das Alter bei der Erst-Präsentation von im Mittel 33 Jahre im Jahr 1986 über 37 Jahre im Jahr 1996 auf 43 Jahre im Jahr 2006 angestiegen. Allerdings bemerkt man im Jahr 2016 wieder einen leichten Rückgang des mittleren Alters bei der Erstvorstellung auf 38,5 Jahre. Betrachtet man die prävalente Population unserer Patienten, so liegt das Durchschnittsalter derzeit bei 48,5 Jahren mit einer Spannbreite von 18-90 Jahren. 1992 lag das Durchschnittsalter bei unseren Patienten bei 39,2 Jahren. Wir betreuen zurzeit acht Patienten die über 80 Jahre alt sind und 33 Patienten die über 75 Jahre alt sind.

Immunologische und virologische Charakteristika

Schon in den neunziger Jahren war bekannt, dass das Alter zum Zeitpunkt der HIV-Erstinfektion als ein wichtiger
prognostischer Faktor für den weiteren natürlichen Verlauf der Infektion gelten kann. Früher traf dies auch auf die Überlebenszeit nach Erstdiagnose zu. Heute im Zeitalter der effektiven antiretroviralen Therapie ist das Alter bei Erstdiagnose nur noch von relativer Bedeutung, da die Therapie nicht mehr erst nach einer Wartezeit bis zum Abfall der Helferzellen begonnen wird, sondern dem Patienten baldmöglichst nach der Diagnose angeboten wird. Dass dies bei älteren Patienten besonders wichtig ist, zeigt die START-Studie. Der frühe Therapiebeginn kann klinische Ereignisse verhindern (Abb. 1).

Abb. 1  START-Studie. Sofortiger vs späterer Therapiebeginn nach Altersgruppen. Über 50-Jährige haben ein deutlich höheres Risiko von klinischen Ereignissen bei späterem ART-Beginn
Abb. 1 START-Studie. Sofortiger vs späterer Therapiebeginn nach Altersgruppen. Über 50-Jährige haben ein deutlich höheres Risiko von klinischen Ereignissen bei späterem ART-Beginn

Aus zahlreichen Serokonverter-Studien an Patienten verschiedenster Risikogruppen ist bekannt, dass die immunologische Verschlechterung wie sie am Abfall der CD4-Zellen gemessen wird, umso steiler ist, je höher das Alter zum Infektions-Zeitpunkt ist. So hat beispielsweise eine Studie von Operskalski gezeigt, dass über 40-Jährige einen signifikant rascheren CD4-Abfall hatten als unter 40-Jährige. Ähnliches sah man in Kohorten von HIV-positiven Hämophilie-Patienten. Auch hier könnte man wieder argumentieren, dass die Behandlung heutzutage ohnehin frühzeitig begonnen wird. Es soll aber auch darauf hingewiesen werden, dass das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Immunrekonstitution ebenfalls eine Funktion des Alters ist. Nicht nur im klinischen Alltag ist die Beobachtung häufig, dass bei älteren Patienten das Wiedererreichen einer Helferzell-Zahl zwischen 200 und 400 nicht nur langsamer eintritt, sondern manchmal sogar ganz ausbleibt. In einer Vergleichsstudie von Personen über 55 Jahren versus Personen unter 35 Jahren konnten Manfredi und Chiodo einen signifikanten Unterschied des Anstiegs der CD4-Zellen im Verlauf von 12 Monaten zeigen: Während im Mittel die CD4-Zellen bei älteren Patienten nach 12 Monaten Therapie lediglich von 210 auf 290/µl anstiegen erreichten die unter 35-Jährigen im Mittel in dieser Zeit schon die Marke von 350/µl Helferzellen.

Nicht alles wird schlechter

Jedoch nicht alles ist schlechter, wenn man über 50 Jahre alt ist. So wurde auch davon berichtet, dass über 50-Jährige ein besseres virologisches Ansprechen zeigen, sowohl in Studien als auch im Praxis- und Ambulanz-Alltag. Dies wird dadurch erklärt dass die Adhärenz im Allgemeinen im höheren Lebensalter besser ist. Dies mag mit höherer Gewissenhaftigkeit, mehr Lebenserfahrung und höherer Wertigkeit der eigenen Gesundheit zu tun haben. Verglichen mit jüngeren Patienten erreichen über 50-Jährige mit HIV-Infektion signifikant häufiger das Adhärenz Ziel von mindestens 95% Einnahmetreue.

Alterskrankheiten

Abb. 2  Ältere HIV-Positive haben häufiger multiple Begleiterkrankungen als HIV-Negative. Prävalenz in einer prospektiven Kohorte (540 HIV+ vs 524 HIV- über 45-Jährige)
Abb. 2 Ältere HIV-Positive haben häufiger multiple Begleiterkrankungen als HIV-Negative. Prävalenz in einer prospektiven Kohorte (540 HIV+ vs 524 HIV- über 45-Jährige)

Auch ohne HIV-Infektion nimmt die Häufigkeit von chronischen Erkrankungen und Störungen mit jeder Dekade zu. Dazu gehören das metabolische Syndrom, der arterielle Hochdruck, die koronare Herzkrankheit, die Osteoporose, die Verschlechterung der Nierenfunktion und die Häufung von neoplastischen Erkrankungen ebenso wie demenzielle Entwicklungen. All diese Erkrankungen treten auch bei HIV-Infizierten mit jeder Dekade häufiger auf, aber es gibt Anhaltspunkte dafür, dass manche davon schon früher einsetzen und häufiger auftreten als bei nicht HIV-Infizierten (Abb. 2). Man könnte also zusammenfassen: Alter mit HIV ist wie Alter ohne HIV nur schneller und intensiver. Dem gilt es, energisch durch medizinische Versorgung, Vorsorge, Lebensstil Änderung, Frühdiagnostik und Patienteninformation entgegen zu wirken.

Der große Vorteil, den HIV-Infizierte in Deutschland haben ist, dass sie alle drei Monate die Gelegenheit haben, von einem Facharzt untersucht zu werden und unter laufender medizinischer Kontrolle, Betreuung und Beratung zu stehen. Das gibt dem Arzt die Möglichkeit, im Lauf der Zeit alle möglichen Themen zu adressieren und gegebenenfalls die antiretrovirale Therapie so anzupassen, dass sie mit den Medikamenten gegen die Begleiterkrankungen kompatibel ist.

Befindlichkeitsstörungen

Den klar definierten Begleiterkrankungen wie sie im vorangehenden Absatz aufgeführt wurden, stehen Symptome gegenüber, die nicht unbedingt zu einem Arztbesuch führen, aber die Befindlichkeit, das Körpergefühl und das Lebensglück beeinträchtigen können. Bei einer Befragung von älteren HIV-Patienten in San Francisco gab jeder zweite an, an depressiven Symptomen zu leiden und etwas mehr als 30% berichteten über Gelenkbeschwerden. Knapp 20% der Patienten berichteten über Probleme mit der Haut. Die klinische Erfahrung zeigt, dass das Eingehen auf die Beschwerden des Patienten inklusive das aktive Erfragen derselben schon dazu beiträgt, Befindlichkeitsstörungen abzubauen und die Gesamt-Zufriedenheit mit der eigenen Situation, mit der eigenen Gesundheit und psychosozialen Situation zu steigern.

Vorsorge-Plan

Regelmäßige Vorsorge-Untersuchungen gehören auch in die HIV-Sprechstunde. Neben dem Erfassen von Stoffwechselveränderungen muss das kardiovaskuläre Risikoprofil beurteilt und gegebenenfalls Risikofaktoren (Rauchen, Blutdruck, Cholesterin, Zucker) abgebaut werden. Bei älteren Patienten (und Patientinnen!) sollte man zudem auf Risikofaktoren für Osteoporose achten. Die Kontrolle der Nierenfunktion, die Überprüfung wichtiger Vitamin-Spiegel (z.B. Vitamin-D) und die Motivation des Patienten zur Krebs-Vorsorge gehört ebenfalls zum Betreuungs-Programm älterer Patienten.

Anpassung der ART

Ältere multimorbide Patienten suchen häufig auch andere Fachärzte auf. Hier sollte man immer wieder darauf aufmerksam machen, dass jedes neu angesetzte Medikament auf Interaktionen mit der laufenden antiretroviralen Therapie überprüft werden muss. Erfahrungsgemäß sind Kollegen in anderen Fachgebieten nicht immer mit dem Interaktionspotential von geboosterten ART-Kombinationen vertraut.

Bei Patienten mit langer ART-Historie ist nicht selten die Vermeidung von Langzeit-Nebenwirkungen Anlass zum Umstellen der Therapie, beispielsweise auf eine duale Therapie mit Verzicht auf Nukleosid-Komponenten. Bewährt hat sich in der Praxis auch ein Umsetzen auf Integraseinhibitor-basierte Regimes mit einem im Allgemeinen geringen Interaktionspotential. Doch selbst hier ist die Absprache mit anderen Fachärzten wichtig, z.B. wegen der Interaktion mit Metformin.

Die Anzahl der Tabletten spielt bei älteren Menschen im Gegensatz zu jüngeren Patienten meist keine Rolle mehr. Wenn die Tabletten-Schachtel ohnehin jeden Tag 10 Tabletten enthält, ist es nicht mehr wichtig, ob die ART aus einer, zwei oder drei Tabletten täglich besteht.


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