Interview mit Prof. Hans-Jürgen Stellbrink, Vorsitzender der Leitlinienkonferenz
Leitlinien sind Wissenschaft und Meinungen
Prof. Hans-Jürgen Stellbrink
Hamburg
Vorstand DAIG
Vor kurzem wurden die deutsch-österreichischen Leitlinien zur ART aktualisiert. Was sind die wichtigsten Neuerungen?
Prof. Stellbrink: Die wichtigste Neuerung ist wohl die neue Gewichtung bei den NRTIs. F/TAF wird jetzt bei der Entscheidung für Tenofovir primär empfohlen – mit der Einschränkung Schwangerschaft. F/TDF wird zur Alternative. Dies wurde in der Leitlinienkonferenz intensiv diskutiert und eine knappe Mehrheit hat dafür gestimmt. Bei ABC/3TC hat sich nichts geändert. Es wird weiter empfohlen.
Sind das die ersten Leitlinien die F/TAF den Vorzug geben?
Prof. Stellbrink: Die IAS-USA Leitlinien haben als erste diesen Schritt gemacht. Die europäische Leitlinie nennt jetzt zwar F/TAF als erstes, TDF/FTC wird aber auch empfohlen. Zu bedenken ist dabei auch, dass in einigen europäischen Ländern TAF nicht verfügbar ist. Die DHHS empfiehlt F/TAF ebenso wie F/TDF. Unsere Leitlinien sind also nicht die ersten und nicht die einzigen, die F/TAF dem F/TDF vorziehen. In der geringen Stärke des Konsensus spiegelt sich die Debatte wieder, die auch danach anhalten wird. Letztlich ist es natürlich im wesentlichen eine Kostendebatte.
Die EACS-Leitlinien vom Oktober 2017 geben als Argument gegen die generelle Empfehlung von F/TAF das Fehlen von Langzeitdaten an. Hat sich das geändert?
Prof. Stellbrink: Die Forderung nach Langzeitdaten ist ein Argument, das man letztlich bei neueren Medikamenten immer anführen kann. Wir haben für TAF Daten aus einer großen Zahl von Studien bei vielen Patienten und in den verschiedensten klinischen Situationen. Auch setzen wir TAF/FTC ja schon seit einiger Zeit breit in der Praxis ein. Wir haben also Erfahrung. Auf der anderen Seite müssen wir natürlich wachsam bleiben und bei negativen Signalen unsere Empfehlungen schnellstmöglich anpassen.
Das Hauptargument für F/TAF ist die geringere Toxizität für Niere und Knochen. Eine erhöhte Rate von Nierenversagen und Knochenbrüchen ist im Praxisalltag nicht spürbar.
Prof. Stellbrink: Da kann ich nur fragen: Wollen wir darauf warten? Eine entsprechende Studie müsste beispielsweise terminale Niereninsuffizienz als Endpunkt haben. Niemand wird es sehenden Auges unter TDF soweit kommen lassen. Eine solche Studie halte ich nicht für durchführbar. Für Frakturen als Endpunkte bräuchte man sehr große Zahlen von Patienten, und man müsste sehr lange auf die Endpunkte warten. Wir müssen aber heute über Therapien entscheiden und können das vorläufig nur auf der Basis von Surrogatparametern wie eGFR oder Knochendichte.
In der Substudie GS 903E erhielten Patienten 10 Jahre lang TDF. Es gab keine Knochenbrüche und nur bei 1% einen relevanten Nierenfunktionsverlust.
Prof. Stellbrink: Beides sind zeitabhängige Events. Selbst 10 Jahre sind hier keine lange Beobachtungszeit, wenn wir die Jahrzehnte der ART bedenken, die die Patienten vor sich haben. Außerdem nahmen an dieser Studie überwiegend junge Menschen mit wenig Risikofaktoren teil. In Kohortenstudien, also in weniger selektionierten Kollektiven, ist der Abfall der Nierenfunktion mit TDF assoziiert. Und auch in der Praxis sehen wir Patienten, die viele Jahre TDF einnehmen und langsam, aber kontinuierlich mit der GFR abfallen. Wir wechseln dann das Medikament, aber nicht immer erholt sich die Nierenfunktion.
Durch den generellen Einsatz von F/TAF minimiert man also das Risiko von Langzeitschäden durch F/TDF, die eigentlich durch Kontrollen vermeidbar sind. Das wirft die Frage auf, wie viel ist das uns wert angesichts der höheren Kosten von F/TAF?
Prof. Stellbrink: Das ist die entscheidende Frage. Es geht nicht um die Frage, ob TAF besser ist als TDF. Das ist wissenschaftlich geklärt zu Gunsten von TAF, zumindest bezüglich Knochen und Nieren. Ich glaube auch nicht, dass wir sicher sein können, diese Langzeitschäden durch Kontrollen zu vermeiden, weil sie sich eben nicht bei jedem nach Umsetzen voll zurückbilden. Manche Kontrollen wie die Knochendichtemessung stehen uns in Deutschland auch nicht breit zur Verfügung.
Aber es geht im Kern tatsächlich um die Frage, die Sie stellen: Ist diese geringere Nebenwirkungsrate den Preisunterschied wert? Ein Preis hat sich im Rahmen des AMNOG ergeben, aber die Preise bleiben auch danach in Bewegung, und die Situation bezüglich der Wirtschaftlichkeit verändert sich weiter. Diese Frage muss daher jeder für sich immer neu und vor allem für die einzelnen Patienten beantworten. Leitlinien geben hier nur einen Rahmen vor, sind aber keine Richtlinien. Sie sagen nur, was die beteiligten Experten als optimal, was als ausreichend und was als nicht mehr akzeptabel ansehen. Ich persönlich sehe meine vorrangige Verantwortung bei der möglichst optimalen und risikoärmsten Behandlung des einzelnen Patienten. Der Preis spielt auf jeden Fall eine Rolle, wenn günstigere Therapien gleichwertig sind, kann meines Erachtens aber nicht die erstrangige Erwägung im Arzt-Patientenverhältnis sein.
Gibt es noch andere Unterschiede im Nebenwirkungsprofil von TDF oder TAF?
Prof. Stellbrink: Ein weiterer Unterschied ist der cholesterinsenkende Effekt von TDF, der wahrscheinlich positiv zu bewerten ist, auch wenn wir keinen direkten Beleg für die klinische Bedeutung haben. Neuerdings kursieren Berichte über eine Gewichtszunahme unter TAF. Solche möglichen Signale unerwarteter Nebenwirkungen muss man weiter beobachten und gegebenenfalls mit einer Überarbeitung der Leitlinien darauf reagieren. Jeder von uns kann das aber auch jetzt schon individuell tun, weil F/TDF als Alternative weiterhin eine Option ist.
Was empfehlen Sie beim Switch? Soll man supprimierte Patienten von F/TDF auf F/TAF umstellen?
Prof. Stellbrink: Die Leitlinien geben hier keine konkreten Anweisungen, sondern stellen nur die Prinzipien der Umstellung dar. Das heißt, Ärztinnen und Ärzte müssen – wie bereits gesagt – individuell entscheiden und wie immer die Gründe für ihre Entscheidung dokumentieren. Jede Umstellung sollte einen Grund haben und darf nicht die virologische Wirksamkeit gefährden. Ein solcher Grund kann natürlich auch die Reduktion bestimmter Risiken oder die Verbesserung der Adhärenz sein.
Abacavir/3TC wird in anderen Leitlinien nur als Alternative genannt. Ist es Zeit für Herabstufung?
Prof. Stellbrink: Für mich wären Kriterien für eine Herabstufung im Vergleich zu den alternativen Optionen: Weniger gute Wirksamkeit, mehr Nebenwirkungen und komplizierter Einsatz. Bei Abacavir gibt es hierzu entsprechende Fußnoten, wobei der Hinweis auf das kardiovaskuläre Risiko kontrovers diskutiert wird. In der Leitlinien-Konferenz wurden diese nicht als so schwerwiegend angesehen, dass ein Bedarf einer Veränderung gesehen wurde.
Bei der dritten Substanz empfehlen die Nordamerikaner allein Integrasehemmer, in Deutschland und Österreich sind noch die Fixkombinationen mit Rilpivirin und geboosterten Darunavir im Rennen ...
Prof. Stellbrink: Die Leitlinienkonferenz hat darüber diskutiert. Die Kombination mit Rilpivirin wurde bei korrektem Einsatz für gut wirksam und sehr gut verträglich befunden und daher weiterhin in der First-Line empfohlen. Für Darunavir sprach der Bedarf nach einem Medikament mit einer sehr hohen genetischen Hürde bei einigen Patienten. Prinzipiell wäre ein solcher Einsatz zwar genauso möglich, wenn beide als Alternativen genannt würden, aber die beteiligten Experten hielten einen Verzicht auf andere Substanzklassen für die dritte Substanz derzeit nicht für gerechtfertigt.
Leitlinien spiegeln ja nicht nur Studien wieder, sondern auch die Meinung der Teilnehmer der Leitlinien-Konferenz.
Hat sich beim Zeitpunkt des Beginns der Therapie etwas geändert?
Prof. Stellbrink: Nicht grundsätzlich. Anders als bei den Amerikanern, denen es nicht schnell genug gehen kann, ist für uns die Bereitschaft des Patienten, sich auf eine lebenslange Therapie mit hoher Adhärenz einzulassen, wichtiger als der unbedingte sofortige Therapiebeginn, natürlich nur, wenn Immunstatus und Klinik das erlauben.
Vielen Dank für das Gespräch.