Josef Eberle und Oliver T. Keppler, München
Stellungnahme durch das Nationale Referenzzentrum für Retroviren (9. Mai 2018)
Infektionsgefahr für HIV durch Leichen?
Aktueller Anlass
Ein HIV-Infizierter, dessen Infektion viele Jahre erfolgreich behandelt wurde, starb an einem Tumorleiden. Der Leichenbeschauer kreuzte in Kenntnis der HIV-Infektion auf dem nicht-vertraulichen Teil der Todesbescheinigung unter Warnhinweisen das Feld „Infektionsgefahr“ an (Abb. 1). Daraufhin wurde der weitere Umgang mit der Leiche vom Bestattungsunternehmen, den Bestimmungen entsprechend abgewickelt (Bayerische Bestattungsverordnung, Abs. 1 Sätze 1-3). Die Leiche wurde nicht gewaschen, rasiert, frisiert und umgekleidet und am Sarg wurde ein deutlich erkennbarer Hinweis auf die Infektionsgefahr angebracht. Ein persönlicher Abschied durch die Angehörigen am offenen Sarg konnte nicht stattfinden.
Diese Vorgehensweise hat verständlicherweise zu Irritationen geführt und in der Folge wurde zur Einschätzung des generellen Gefährdungspotentials durch einen HIV-positiven Verstorbenen das Nationale Referenzzentrum für Retroviren um eine kurze Stellungnahme gebeten.
Abb. 1 Formblatt Todesbescheinigung, Nicht-vertraulicher Teil
Intention des Gesetzgebers
Das Infektionsschutzgesetz (IfSG) definiert im § 1 Abs. 1 seinen Zweck darin, „übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern“.1 Eine weitere Recherche im IfSG zeigt, dass das Stichwort „Leiche“ als Wortbestandteil von „Leichenschau“ in den §§ 25 und 26 vorkommt und nur die Durchführung einer Leichenschau bei Verdacht auf infektiöse Erkrankungen nach „Art, Ursache, Ansteckungsquelle und Ausbreitung“ der zum Tod führenden Krankheit sicherstellt.
Dagegen gibt es in den verschiedenen Ländergesetzgebungen unterschiedliche Verordnungen zur Leichenbestattung. In der in Bayern geltenden Bestattungsverordnung auf deren § 7 auch in der oben erwähnten Todesbescheinigung hingewiesen wird, schränkt allerdings Absatz 1 die weiteren Maßnahmen auf solche Krankheiten ein, bei denen „die konkrete Gefahr besteht, dass gefährliche Erreger beim Umgang mit der Leiche übertragen werden“.2 Eine solche Gefahr liegt zweifellos zum Beispiel bei bestimmten Erregern hämorrhagischer Fieber, wie dem Ebolavirus, vor. Es ist also die Frage zu klären, ob bei einer HIV-Infektion auch eine solche Gefahr besteht.
Modell-basierte Risikoeinschätzung
Für HIV besteht kein Übertragungsrisiko beim Kontakt mit der Haut eines lebenden Infizierten. Ebenso wenig geht vom Schweiß, Urin oder Stuhl eine Infektionsgefahr aus. Was ändert sich nach Eintritt des Todes?
HIV repliziert im Wesentlichen in CD4-positiven Zellen, die sich im Blut und in lymphatischen Geweben befinden. Mit Eintritt des Todes kommt es zur Zersetzung des Blutes und einem raschen Abfall der Sauerstoff- und Nährstoffkonzentration. Die Stoffwechselleistung der virusinfizierten Zellen nimmt ab und somit auch die Neuproduktion von Viruspartikeln. Im lebenden HIV-Infizierten ohne Therapie findet ein rascher Gesamtumsatz von HIV-Partikeln statt und es stellt sich ein Fließgleichgewicht zwischen Virusproduktion und Virusabbau ein, bei dem über 90% der Viruslast täglich durch neu gebildete Virionen ersetzt werden.3 Die Abbauvorgänge sind nur teilweise durch den aktiven Angriff von z.B. CD8-Zellen und NK-Zellen zu erklären. Daneben spielen vermutlich auch Antikörper, Komplementlyse und Verlust der viralen Oberflächenproteine eine wichtige Rolle. Nach einem finalen Kreislaufstillstand kommen dann noch autolytische Prozesse, Gerinnung des Blutes und der Beginn der bakteriellen Zersetzung des Körpers dazu, so dass die HI-Viruskonzentration im Blut und in den Organen der Leiche abhängig von der ursprünglichen Viruslast und der Temperatur der Leiche rasch abnehmen. Für viele andere, insbesondere blutübertragene Viren dürfte die Situation sehr ähnlich zu bewerten sein.
Übertragungsrisiken
HIV ist bei geeignetem Kontakt mit Blut eines Infizierten ohne Zweifel übertragbar. Während Bluttransfusionen mit einem Risiko bis zu 100% behaftet sind und der direkte Kontakt mit Blut und anderen Körperflüssigkeiten im Rahmen der natürlichen Geburt bei 10-20% der Neugeborenen zur Infektion führen kann, liegt das Risiko bei Verletzungen mit Hohlnadeln an HIV-Infizierten ohne Therapie im Mittel bei ca. 0,3%.4 Der Kontakt von HIV-haltigem Blut mit Schleimhäuten wird an gleicher Stelle mit einem 10-fach geringerem Risiko angegeben. Es ist wichtig zu verdeutlichen, dass kein Infektionsrisiko bei Kontakt der intakten Haut mit HIV-positivem Blut und daher noch weniger durch Kontakt mit Schweiß, Urin oder Darminhalt zu erwarten ist.
Evidenz- und Tätigkeitsbasierte Risikoeinschätzung
Nach direktem Blutkontakt, z.B. durch Stichverletzungen mit Hohlnadeln, wurden HIV-Übertragungen vom Lebenden in ca. 0,3% der Fälle beobachtet. Bei Schleimhautkontakten zu Blut von HIV-Infizierten ist das Übertragungsrisiko deutlich geringer. Übertragungen von HIV-infizierten Leichen auf Bestattungspersonal wurden unserer Kenntnis nach noch nicht berichtet, obwohl ein Kontakt mit Körperflüssigkeiten sicher stattfinden kann.
Für
Personen, die Obduktionen oder andere Tätigkeiten mit
Verletzungsrisiko ausführen dagegen besteht ein
HIV-
Infektionsrisiko, das durch den Verletzungskontakt beim
Arbeiten an der Leiche bestimmt wird. Hier kann ein Hinweis im
vertraulichen Teil der Todesbescheinigung hilfreich sein, um das
Risikobewusstsein bei der Durchführung entsprechender Arbeiten zu
schärfen.
Widersprüchlichkeiten und Einschätzung
Tatsächlich ist die sicher in guter Absicht durch den Leichenbeschauer getätigte Kennzeichnung eines Verstorbenen bei einer bekannten HIV-Infektion mit „Infektionsgefahr (Schutzmaßnahmen nach § 7 der Bayerischen Bestattungsverordnung erforderlich)“ durchaus verständlich. Es wäre allerdings hilfreich, auf der Todesbescheinigung klarer auf die Intention des Gesetzgebers hinzuweisen, also „wenn eine konkrete Gefahr beim Umgang mit der Leiche vorliegt“ (s.o.). Eine entsprechende Änderung ist umso wichtiger, als in der S1-Leitlinie zur Durchführung der ärztlichen Leichenschau Folgendes zur Benachrichtigung des zuständigen Gesundheitsamtes steht5:
„Gemäß § 9 Abs. 3 IfSG hat der Leichenschauarzt unverzüglich Meldung an das für den Aufenthalt- bzw. Sterbeort zuständige Gesundheitsamt zu erstatten, wenn die Todesursache eine übertragbare Krankheit ist oder der Verstorbene an einer übertragbaren Krankheit gelitten hat bzw. entsprechender Verdacht besteht.“
Tatsächlich befasst sich § 9 des IfSG ausschließlich mit namentlich meldepflichtigen Erkrankungen, also explizit nicht mit HIV. Aber selbst wenn eine HIV-Infektion nicht zur namentlichen Meldung auf dem nicht-vertraulichen Teil der Todesbescheinigung führen darf, besteht durch Verstorbene weder mit einer HIV-Infektion noch z.B. mit einer chronischen HBV- oder HCV-Infektion, eine Gefahr der Übertragung beim Umgang mit der Leiche, solange keine Tätigkeiten mit Risiko für Stich- oder Schnittverletzungen, die zu einem Blut-Blut-Kontakt führen könnten, durchgeführt werden.
Vielleicht dürfen wir auf präzisierende Ergänzungen der S1-Leitlinie und auf eine Neugestaltung der Todesbescheinigung hoffen, damit eine vernünftige Umsetzung der Intention des Gesetzgebers zur Vermeidung von Infektionsübertragungen durch Leichen gewährleistet wird.
1 https://www.gesetze-im-internet.de/ifsg/ aufgerufen am 2. Mai 2018
2 http://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayBestV-7 aufgerufen am 2. Mai 2018
3 Perelson AS et al. HIV-1 dynamics in vivo: virion clearance rate, infected cell life-span, and viral generation time. Science 1996 (271) 5255:1582-1586; DOI: 10.1126/science.271.5255.1582
4 http://www.daignet.de/site-content/hiv-therapie/leitlinien-1 „Leitlinien zur Postexpositionellen Prophylaxe der HIV-Infektion” Stand Juni 2013
5 http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/054-002.html aufgerufen am 2. Mai 2018