Sven Schellberg, Berlin
FindHIV – Der Late Presentation auf der Spur
Die moderne HIV-Therapie ermöglicht Patienten ein nahezu normales, gesundes und im Vergleich zur nicht betroffenen Bevölkerung nicht signifikant verkürztes Leben. Voraussetzung ist die rechtzeitige Diagnose, die auch im globalen Ziel der WHO „90-90-90-0“ die Basis der Zielvorgabe darstellt. Nach neuesten Schätzungen des RKI lag Deutschland 2017 mit 86% im Bereich der Diagnostik bereits nah an diesem Ziel, doch noch immer erfolgen viele HIV-Diagnosen so spät, dass man aufgrund der CD4-Zellzahl (<350/µl) oder des Erkrankungsstatus (CDC B oder C) von „Late Presentern“ spricht.
Sowohl in Deutschland als auch im gesamten Europa liegt der Anteil von „Late Presentern“ bei Erstdiagnose einer HIV-Infektion noch immer knapp unter 50%, wie internationale Zahlen der COHERE-Kohorte aber auch die im letzten Jahr auf der EACS-Konferenz in Mailand vor-gestellten Zahlen der PROPHET-Studie der DAGNÄ belegen.
Late Presentation ist assoziiert mit:
- Höherer Mortalität, mehr Hospitalisierungen
- Höherem Risiko neurokognitiver Defizite und nicht-AIDS-definierender Erkrankungen
- Geringer Chance einer vollständigen viralen Suppression
- Höheren Kosten
- Höherer Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines IRIS
- Höherem Risiko einer Transmission
- Geringerer Lebensqualität.
Diagnose verpasst
Abb. 1a Abnahme von Late Presentation und Zunahme der CD4-Zahl bei HIV-Diagnose 2000-2010. Daten der COHERE-Kohorte. (Mocroft A et al., 2013) 1b Unverändert hohe Rate der Late Presentation in Europa 2010-2013 (n=30,454) COHERE in EuroCoord, 2015
Obwohl die Risikofaktoren einer HIV-Infektion weitläufig bekannt sein sollten und mögliche Indikatorerkrankungen keinesfalls selten sind, zeigt die klinische Erfahrung, dass viele Patienten teilweise schon lange vor Ihrer Diagnose Kontakt zum Gesundheitssystem hatten und eine frühere Diagnose durchaus möglich gewesen wäre, diese Chancen aber zum Teil mehrfach versäumt werden.
Diesem Phänomen möchte nun der Lehrstuhl für Medizinmanagement der Universität Duisburg Essen in Kooperation mit der DAGNÄ, MUC Research und CLINOVATE mit einer Studie auf den Grund gehen, die vom Innovationsfond finanziert werden wird.
Von Daten zur Aktion
FindHIV, so der Name der Studie, soll zunächst in einer initialen Datenerfassung an 35 Zentren in ganz Deutschland über etwas mehr als 12 Monate die Charakteristika von Patienten mit neu diagnostizierter HIV-Infektion erfassen. Hierbei geht es insbesondere um die Ermittlung patientenseitiger Charakteristika, die zu einer Verzögerung der Diagnose führen, die Erhebung der typischen Symptomatiken/Diagnosen vor HIV-Diagnosestellung und die Identifikation der Stellen im Gesundheitssystem, an denen diese Patientengruppe vorstellig wurde.
In einer zweiten Phase, die sich an die Auswertung der Primärdaten anschließt, soll die Erarbeitung eines Scores/Fragenbogens zur Frühdiagnose sowie von Handlungsempfehlungen zum Einsatz des Scores zur Verringerung der Anzahl von Late Presentern stehen, die klinisch relevante Empfehlungen gibt, um den Anteil der Late Presenter mit den o.g. Konsequenzen effektiv zu senken.
Abb. 2 Late Presenter bei HIV-Diagnose bei MSM, männlichen IV-Drogengebrauchern (IDU) und männlichen Migranten. Multivariate Analyse. Rosa Bereich 95% Konfizenz Intervall
Die Erfassung der Patientencharakteristika wird in einem einseitigen Interview des Patienten durch den Behandler erfolgen. Mit Unterstützung eines elektronischen Erfassungssystems und eines entsprechenden Fragealgorithmus sollen insbesondere die folgenden Aspekte erfasst werden:
- Patientencharakteristika/-struktur unmittelbar vor dem ersten positiven HIV-Tests
- HIV-Testung
- Krankheitsstadium und Laborergebnisse
- Symptome und Erkrankungen vor dem ersten positiven HIV-Test
- Morbidität und Komorbidität vor dem ersten positiven HIV-Test
- Kontakte zum Gesundheitswesen vor dem ersten positiven HIV-Test
- Die Einschätzungen des Behandlers.
Um
eine ausreichend hohe Datenbasis für die Entwicklungen von
Handlungsempfehlungen zu erreichen, sollen etwa 800 Patienten in die
Studie eingeschlossen werden. Mit der Veröffentlichung des Scores
wird derzeit für Mitte 2021
gerechnet.
Die
Studienpartner hoffen auf eine rege Mitarbeit an dieser Studie,
insbesondere, da es hier nicht nur um eine deskriptive Erfassung des
Problems geht, sondern durch den zu entwickelnden Score/
Fragebogen
um eine ganz praktische Umsetzung, die noch mehr Patienten eine
möglichst frühe Diagnose ermöglichen soll, und allen Beteiligten
im Gesundheitssystem die Chancen einer frühen Diagnose demonstriert.
1 Mocroft A, Lundgren JD, Sabin ML, Monforte Ad, Brockmeyer N, et al. (2013) Risk Factors and Outcomes for Late Presentation for HIV-Positive Persons in Europe: Results from the Collaboration of Observational HIV Epidemiological Research Europe Study (COHERE). PLOS Medicine 10(9): e1001510. doi:10.1371/journal.pmed.1001510
2 Mocroft A, Lundgren JD, Sabin ML, Monforte Ad, Brockmeyer N, et al. (2013) Risk Factors and Outcomes for Late Presentation for HIV-Positive Persons in Europe: Results from the Collaboration of Observational HIV Epidemiological Research Europe Study (COHERE). PLOS Medicine 10(9): e1001510. doi:10.1371/journal.pmed.1001510
3 Zoufali A et al. HIV Medicine (2012),13, 172-181 DOI: 10.1111/j.1468-1293.2011.00958.x
4 The Prophet Study, PE 9/44 EACS 2017, Milan, Italy