Diesmal nicht zur CROI
Ganz ehrlich: es passte mir ganz gut, dieses Jahr nicht zur CROI zu fliegen, und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund war Greta. Richtig, Greta Thunberg. Dass sich erwachsene Menschen so über sie aufregen können, verstehe ich nicht. Sie hat ja Recht. Man muss bei sich selber anfangen. Ein Flug nach Boston macht 5,8 Tonnen CO2, fast das Dreifache des Jahresbudgets. Meine CO2-Bilanz ist beschämend. Ein Freund ist TV-Wetterfrosch, er fährt neuerdings per Zug nach Rom, er muss es wissen. Bin ich auf der CROI verzichtbar? Wohl ja. Werden meine HIV-Patienten schlechter behandelt, wenn ich nicht fahre? Wohl nein.
Der zweite Grund war Flugangst. Nicht schlimm, man kann es als leichte, reaktive Störung kodieren. Als Boomer bin ich von 1977 geprägt, von Teneriffa, dem größten Flugunglück der Geschichte. Die STERN-Artikel. „17:02, Copilot: Ich glaube, er hat die erste Bahn gesagt“. Die Zeichnung des Augenblicks, in dem die KLM auf der nebeligen Landebahn von Los Rodeos in die PanAm rauscht. Die Fotos der Leichen, Flammen, Trümmer. Monate später, im Deutschen Herbst, kam noch Mogadischu dazu, mit Ben Wisch und Captain Mahmud. Sowas bleibt hängen. Ohne Zolpidem kann ich im Flugzeug nicht schlafen, selbst in der Business-Class. Ein Luftloch, und ich bin hellwach. Zittert die Stimme des Piloten, wenn er von „Turbulenzen“ spricht? Ich habe viele Jahre als Frequent Traveller die Lounge-Sessel dieser Erde mit Erdnüssen verkrümelt, ich war zwanzigmal auf der CROI. Nun verzichte ich also, es ist besser für die Eisbären und für meine Nerven.
Okay, es gab noch einen dritten Grund: ich war beleidigt. Mein Abstract mit der Uni Liverpool zu INSTIs-NPAEs wurde abgelehnt, obendrein ein Late Breaker mit spanischen Kollegen zu Dasatinib. Sie wollen nicht wissen, wie man Dolutegravir-Unverträglichkeiten voraussagen oder mit Dasatinib Reservoire leeren kann, die Amis. Dann eben nicht. Tschüss Boston, Meilen, Erdnüsse. Ich habe eine Bahncomfort-Karte. Damit kann man in jeder DB-Lounge Gulasch essen. Oder das Bahnmuseum in Halle an der Saale kostenlos besichtigen.
Von dem vierten und wichtigsten Grund, COVID-19, wusste ich vor Wochen noch nichts.
Besser auf der Couch?
Also ein Selbstversuch: Kann man sich die CROI von zuhause erschließen? Reicht es, sich jeden Abend ein paar Stunden die Sessions anzuschauen und alle Abstracts zu überfliegen? Fehlt nicht der Austausch, die Diskussion? Das wird ja immer gesagt. Neulich war ich in Basel (mit der Bahn!) auf dem EACS. Es ist vier Monate her, genau drei Vorträge sind hängen geblieben. Einer von Chloe Orkin, bei dem sie ihre Slides vergessen hatte, einer von Matthieu Perreau, der mir klar machte, dass ich von Pathogenese nichts verstehe. Der dritte war von Andrew Hill, ein sehr guter Vortrag zu Gewichtszunahme. Der Saal war brechend voll, links neben mir saß eine sehr parfümierte Dame, ihr Restless-Leg-Syndrom war nicht zu übersehen. Nicht zu überhören war dafür der italienische Buntspecht zu meiner Rechten, der so eifrig in sein Notebook hackte, dass ich später nach „fokaler Dystonie“ googelte.
Infos leicht verdaulich
Von Andrew Hill bekam ich nur die Hälfte mit. Hinterher habe ich mir den Vortrag dann im Internet angesehen, weil ich es genau wissen wollte. Auch die Poster habe ich mir alle zuhause angeschaut. Muss man dafür wirklich los? Bei den Münchner AIDS- und Hepatitis-Tagen und im Webinar kriegt man normalerweise sowieso alles häppchenweise serviert. Piedro Vernazza, ein vorausblickender Kopf, ist einige Jahre statt zur CROI mit Kollegen in die Berge gefahren und hat sie sich dort erarbeitet, in einer Hütte. So will es die Legende. Macht er das heute noch? Egal. Ich fahre nicht in die Berge, ich fahre nirgendwo hin. Den Bericht finden Sie auf den nächsten Seiten.