Croi 2020 – 8.-11. März 2020, Boston
HIV im Schatten von COVID-19
Diese Konferenz war besonders, keine Frage. Bis zuletzt hatte es geheißen, sie würde stattfinden, dann wurde unmittelbar vor Beginn aufgrund der aktuellen Ereignisse auf ein rein virtuelles Meeting umdisponiert. Bis auf einige Redner und Chairs blieben alle zuhause. Die aktuelle COVID-19-Pandemie machte es schwer, sich auf HIV-Themen zu konzentrieren, und von den guten Vorsätzen (siehe Streiflicht) blieb nicht viel übrig. Zu sehr zog und zieht COVID-19 in den Bann, schließlich war und ist jeder selbst unmittelbar betroffen. Lag es an der eigenen Wahrnehmung, dass die CROI 2020 nicht so viel Bahnbrechendes zu bieten hatte? Daran, dass man zu viel mit COVID-19 in der Arbeit, der eigenen Familie, mit Remdesivir oder Chloroquin beschäftigt war, um sich um ein paar Pfund Gewichtszunahme unter welcher ART auch immer zu kümmern? Oder lag es an der rein virtuellen Konferenz, die zwar bewundernswert professionell und störungsfrei über die Bühne ging, in der sich die Bedeutung der Daten dann aber eben doch nicht so gut vermitteln lässt? Vielleicht von allem etwas. Einige Beiträge gab es dann aber doch, die, wenn COVID-19 vorbei ist, einen Widerhall finden könnten in der HIV-Therapie. Sie sollen hier kurz angerissen werden.
Long Acting
„Long Acting“ (LA) mit monatlichen intramuskulären Gaben von Cabotegravir und Rilpivirin werden für einige Patienten eine wichtige Option werden und die tägliche Einnahme von Tabletten ersetzen. In Kanada wurde Mitte März erstmalig in einem Land die Zulassung erteilt, und zwar unter dem Handelsnamen Cabenuva®. Weitere Länder werden im Verlauf des Jahres folgen.
Abb 1 ATLAS-2M. Virologische Ergebnisse Woche 48 (ITT-E)
Wichtig waren die Daten von ATLAS-2M, einer Folgestudie von ATLAS, in der Patienten unter einer stabilen und erfolgreichen ART zunächst vierwöchentliche Injektionen erhalten hatten. In ATLAS-2M wurden nun achtwöchentliche Gaben (Q8W) mit vierwöchentlichen Gaben verglichen (Overton, #34). Nach 48 Wochen waren 94,3% unter der Nachweisgrenze, im Vergleich zu 93,5% unter Q4W, die Nicht-Unterlegenheit wurde damit gezeigt (Abb. 1). Virologisches Versagen war in beiden Armen recht niedrig, und vor allem mit Q8W waren die Patienten sehr zufrieden. Als kleiner Wermutstropfen blieb freilich, dass unter Q8W insgesamt 8/522 (1,5%) Resistenzen entwickelten, verglichen mit 2/523 (0,4%) unter Q4W. Erstaunlicherweise ergab eine retrospektive Untersuchung der Baseline-Proben, dass ein Teil dieser Resistenzen zu diesem Zeitpunkt bereits in proviraler DNA nachweisbar gewesen war. Bei 5/8 ließ sich zudem der L74I-Polymorphismus nachweisen.
In FLAIR, einer weiteren Studie zu LA, lieferte dieser Polymorphismus keine Erklärung für virologisches Versagen – übrigens auch nicht der Subtyp A (Jeffrey, #532). Was zum virologischen Versagen unter LA führt, soll weiter untersucht werden, eine einfache Erklärung scheint es nicht zu geben. Eine Substudie widmete sich Patienten, die LA aus verschiedenen Gründen abgebrochen hatten. Die Spiegel von Cabotegravir und Rilpivirin blieben bei etwa der Hälfte noch nach 6 Monaten über der IC90. Es wurden sehr unterschiedliche Folgeregime gewählt – Interaktionen mit der neuen ART scheinen nicht relevant zu sein (Ford, #466). Auch bei drei schwangeren Frauen blieben die Spiegel bis zur Geburt relativ hoch, hatten jedoch ebenfalls keine negativen Folgen (Patel, #775).
Gewichtszunahme
Die
bereits auf früheren Konferenzen viel diskutierten Gewichtszunahmen
im ADVANCE-Trial unter TAF+FTC plus Dolutegravir (verglichen mit
TDF+FTC plus Dolutegravir/Efavirenz) waren mit einem erhöhtem
10-Jahres-Risiko für Diabetes verbunden, etwa 4/1.000 Patienten
werden unter dieser Kombination zusätzlich an einem Diabetes
erkranken. Dieses Risiko ist sicherlich niedrig, allerdings
wurden die Gewichtszunahmen aus lediglich 96 Wochen für die
Berechnung herangezogen (Tab. 1a-c) (Hill, #81). Weitere Studien sind
erforderlich. Möglicherweise spielen Polymorphismen im CYP2B6-Gen,
die mit schneller bzw. langsamer Metabolisierung von Efavirenz
assoziiert sind, eine Rolle bei der geringeren Gewichtszunahme unter
Efavirenz. Langsame Metabolisierer, bei denen höhere
Efavirenz-Spiegel zu erwarten sind (leider nicht gemessen) nahmen in
der ADVANCE-Studie weniger zu als andere Patienten (Griesel, #92).
Der NNRTI Doravirin wiederum hatte in DRIVE2Simplify in Kombination
mit 3TC/TDF ebenso wie in Kombination mit dem neuen NNRTTI Islatravir
einen vergleichbaren Effekt auf das Gewicht wie Efavirenz+FTC/TDF
(Abb. 2) (McComsey, #686).
Tab 1a ADVANCE: Veränderungen Gewicht und Adipositas zu Woche 96
Tab 1b ADVANCE: Diabetes zu Woche 96
Tab 1c ADVANCE: Veränderung Laborwerte zu Woche 96
Abb 2 DRIVE2Simplify. Gewichtszunahme zu Woche 48
Unklar bleibt, woran die Gewichtszunahme liegt – ein direkter toxischer Effekt von Efavirenz oder weniger Appetit aufgrund subklinischer neuropsychiatrischer Nebenwirkungen? Oder sind INSTIs einfach appetitanregend? Eine kleine Studie, die dieser Frage nachging, fand keine erhöhte Kalorienaufnahme unter INSTIs (Eckard, #667). In einer Nachuntersuchung aus NACCORD der Jahre 2007-2014 (vor der Einführung von TAF) nahmen unter INSTIs (vorwiegend Raltegravir) nur solche Patienten zu, die vorher einen NNRTI – und nicht einen PI eingenommen hatten. Allerdings wurde hier nicht nach dem Backbone geschaut (Koethe, #668). TAF spielt wahrscheinlich auch eine Rolle. In DISCOVER nahmen PrEPster nach 96 Wochen unter TAF+FTC 1,7 kg zu, verglichen mit 0,5 kg unter TDF+FTC – ein geringer, aber signifikanter Unterschied, bei dem nach wie vor unklar ist, ob er durch TAF oder TDF (Toxizität?) verursacht wird (Ogbuagu, #92).
Neuropsychiatrische Nebenwirkungen
Mehrere Arbeiten widmeten sich den neuropsychiatrischen Nebenwirkungen (NPAEs) unter INSTIs. In einer großen US-Kohorte an 639 Frauen zeigten sich in neurokognitiven Tests signifikant schlechtere Lernleistungen, vor allem unter Dolutegravir, aber auch unter Elvitegravir (O’Halloran, #438). Eine weitere Analyse dieser Kohorte fand dagegen in Depressions-Skalen keine vermehrte Rate an Depression (O’Halloran, #701). In einer kleinen spanischen Studie besserten sich neurokognitive Testergebnisse, wenn von ABC+3TC+Dolutegravir auf TAF+FTC+ Elvitegravir/c gewechselt wurde (Pérez-Valero, #388). In einer irischen Studie waren die Bilirubinwerte von Patienten mit NPAEs unter Dolutegravir höher als Patienten, die diesen INSTI gut vertrugen – möglicherweise ein Hinweis für eine langsamere Metabolisierung aufgrund genetischer Polymorphismen (Alvaz-Barco, #436).
Dolutegravir+3TC
Zu den GEMINI-Studien und therapie-naiven Patienten wurden die 96-Wochen-Daten vorgestellt: An den bislang guten Daten zu Dolutegravir+3TC änderte sich nichts (Underwood, #483). Eine Fülle weiterer Studien widmete sich der Effektivität bei Patienten mit vorbestehenden 3TC-Resistenzen (de Miguel, #485, Wang, #489), vorherigem Therapieversagen (Gagliardi, #486) oder beidem (Baldin, #492). Fazit: Ein nennenswerter virologischer Unterschied lässt sich bislang nicht feststellen, auch nicht in Risiko-Populationen, außerhalb der vor allem in TANGO sehr strengen Einschlusskriterien. Zweifler und Kritiker dieses Ansatzes dürften allmählich die Argumente ausgehen. „Wir brauchen mehr Daten“ gilt irgendwann nicht mehr.
Breit neutralisierende Antikörper (bnAbs)
Der bnAb Elipovimab (GS-9722) von Gilead wurde in Phase I von 24 gesunden Probanden und HIV-Patienten mit supprimierter Viruslast gut vertragen, die PK-Daten legen eine wöchentliche Gabe nahe (Ruane, #39). N6LS, ein aus dem Blut eines Langzeit-Elite-Controllers gewonnener Antikörper, war ebenfalls in Phase I erfolgreich, er soll möglicherweise auch zur subkutanen Gabe entwickelt werden (Widge, #508). Aber muss man bnAbs wirklich passiv lebenslang geben? Mittels Gentherapie über einen AAV-Vektor ließen sich in einer Pilotstudie an acht Patienten erstmals nennenswerte Mengen des bnAbs VRC07 induzieren – dies ist das erste Mal überhaupt, dass man dem Immunsystem die Produktion solcher Antikörper „beibringen“ konnte (Casazza, #41).
Ein weiterer Antikörper, eCD4-Immunglobulin ist ein Entry-Inhibitor, der sowohl den CD4- als auch den CCR5-Korezeptor imitiert. Angeblich ist es für HIV besonders schwierig, diesem Antikörper zu entkommen. In sechs Makaken mit einer SIV-Infektion ließ sich zumindest bei einigen über 88-96 Wochen eine weitgehende virologische Kontrolle erreichen. In einem Übersichtsvortrag wurde geradezu euphorisch über diesen noch präklinischen Ansatz und eine mögliche funktionelle Heilung berichtet, allerdings ist das sicher mit Vorsicht zu genießen – der Redner ist Stockholder der beteiligten Biotech-Firma (Farzan, #53).
Heilung
Eine gute Nachricht: Die intakte provirale DNA (mittels neuer Assays gemessen) scheint unter ART abzunehmen. Gleich zwei Pilotstudien zeigten, dass der Abfall schneller ist als die der gesamten (und zum großen Teil defekten) proviralen DNA. Eine Studie kam auf eine Halbwertzeit von 7,1 Jahren unter supprimierter Viruslast (Gandhi, #75). In der anderen war die Halbwertzeit 4,0 Jahre während der ersten 7 Jahre unter ART, danach lag sie bei 19 Jahren. Beide Studien zeigen plausibel, dass replikationskompetentes Virus offensichtlich eben doch irgendwann verloren geht (Peluso, #308).
Was
gab es sonst zu dem Thema? Björn Jensen (#348) und Ravindra Gupta
(#346LB) stellten längere Follow-Ups ihrer beiden, mittels allogener
Stammzelltransplantation von Delta-32-deletierten Spendern
behandelten Patienten vor. Beide sind ohne ART weiter unter der
Nachweisgrenze nach jeweils 30 bzw. 15 Monaten – nach
Timothy
Brown haben wir jetzt wahrscheinlich zwei weitere Patienten.
Eine weitere Pilotstudie untersuchte die kombinierte Checkpoint-Blockade von PD-1 und CTLA-4 (Rasmussen, #37). Unter den in der Onkologie zugelassenen Substanzen Nivolumab und Ipilimumab ließ sich an 40 Patienten mit Tumorerkrankungen das latente Reservoir insgesamt wenig reduzieren, in Einzelfällen und insbesondere in der Kombination allerdings dann doch signifikant. Weitere Daten sind notwendig.
In einer doppelblind-randomisierten Phase-Ib-Studie an 25 Patienten mit kontrollierter Viruslast wurde mit dem Tolllike Rezeptor (TLR) 7-Antagonisten Vesatolimod der Rebound während einer Therapiepausen ein kleines bisschen verzögert (ein paar Tage), möglicherweise aufgrund der Immunmodulation bzw. CD8-Aktivierung (Sengupta, #40). Die Kombination aus dem bnAb 3BNC117 und dem HDAC-Inhibitor Romidepsin blieb dagegen ohne Effekt auf „Latency Reversal“ (Gruell, #38).
Neue Medikamente
In Phase I ist der Kapsidinhibitor GS-6207, der von Gilead nun doch auch als Tablette weiter entwickelt wird und bei Einmalgabe eine Halbwertzeit von 11-13 Tagen aufwies (Begley, #470). Ebenfalls lang wirksam ist VM-1500A-LAI, eine Weiterentwicklung des in Russland zugelassenen NNRTIs Elsulfavirine. In Phase I zeigten sich monatliche intramuskuläre Gaben als ausreichend (Yakubova, #473). Eine exzellente Wirkung in Zellkulturen zeigte auch STP404, ein allosterischer ALLINI – eine neue Untergruppe der Integrasehemmer (Ahn, #504). GSK3732394, ein Anti-CD4 Antinectin, bindet an die CD4-Domänen 2+3 und verändert die Konformation des CD4-Rezeptors. Diese ViiV-Substanz ist sehr interessant, aber ebenfalls noch präklinisch (Wensel, #20). Islatravir, der RT-Translokations-Inhibitor von MSD, verhinderte im Affenmodell die SIV-Infektion. Er kommt möglicherweise auch als Postexpositionsprophylaxe in Frage (Markowitz, #89LB). MSD hat außerdem zwei neue Tenofovir-Prodrugs in der Pipeline, MK-8504 und MK-8583, der antivirale Effekt bei Einmalgabe in Phase I war allerdings mäßig – die anvisierte, einmal wöchentliche Gabe wird nicht reichen (Mattews, #468).
Schwangerschaft
Eine ganz wichtige Studie zur ART in der Schwangerschaft wurde als Late-Breaker vorgestellt: In IMPAACT 2010, einer offen-randomisierten, dreiarmigen Studie erhielten 643 schwangere Frauen (Gestationsalter 14-28 Wochen) aus neun Ländern entweder TAF+FTC bzw. TDF+FTC plus Dolutegravir oder TDF+FTC+Efavirenz. Die Dolutegravir-Arme waren virologisch besser. Wichtiger noch: der Arm mit TAF+FTC hatte die wenigsten unerwünschten Schwangerschafts-Ereignisse wie Frühgeburt und Untergewicht der Kinder (Chinula, #130LB).
Diese Studie könnte die Behandlung von therapienaiven Schwangeren verändern, nachdem sich im Tsepamo-Register ja mittlerweile kaum noch ein erhöhtes Risiko für Neuralrohrdefekte zeigt. Also komplette Entwarnung für Dolutegravir (und Bictegravir)? Man sollte im Kopf behalten, dass die Schwangeren in IMPAACT 2010 relativ spät mit Dolutegravir anfingen. Für die Sicherheit während der Konzeption reichen die Daten noch nicht aus (Sibiude, #744). Zu denken gab eine Studie aus Vancouver, die in humanen, embryonalen Stammzellen negative Effekte durch beide INSTIs zeigte, im Gegensatz zu allen anderen getesteten antiretroviralen Substanzen (Smith, #789).
Biorhythmus
Eine französische Studie widmete sich den Auswirkungen der zirkadianen Rhythmik auf das Immunsystem. Es sind nicht nur Melatonin und Kortison, die einer solchen Rhythmik unterliegen, sondern auch die CD4-Zellen. So genau wurde vermutlich noch nie hingeschaut: Insgesamt 10 negative und 20 HIV-Patienten mit supprimierter Viruslast wurden stationär aufgenommen, alle vier Stunden wurde gemessen. Die CD4-Zellen waren morgens und vor allem mittags deutlich niedriger (Nadir 12:00 Uhr) als abends oder nachts (Chatterjee, #185). Auch andere Zellpopulationen unterlagen einer zirkadianen Rhythmik, sogar HIV-RNA-Level in den CD4-Zellen. Dieses ist in zukünftigen Studien womöglich zu berücksichtigen.
Mikrobiom
Auffällig war auf der diesjährigen CROI die große Zahl der Studien zum Mikrobiom. Beruhigend dabei für alle, die sich in diesen Zeiten um ihre Darmflora sorgen: Das Mikrobiom normalisiert sich unter ART. Stuhluntersuchungen an 125 Patienten (unbehandelte, behandelte HIV-Patienten, gesunde Kontrollen) zeigten, dass vor allem Aktinobakterien und Firmicutes wieder wachsen (Cruz-Lebron, #225).