Christian Hoffmann, Hamburg
Proteasehemmer bei Coronavirus?

Die Infektionszahlen mit SARS-CoV-2 steigen rapide. Für die Entwicklung neuer Medikamente oder eines Impfstoffs ist die Zeit zu knapp. Es gibt keine spezifischen oder gar zugelassenen Therapien für COVID-19. Was steckt hinter der Diskussion um HIV-Proteasehemmer?

Die Mortalität von COVID-19 scheint niedriger als bei SARS und MERS, aber deutlich höher als bei Influenza zu sein. Mindestens 5% der Patienten erkranken schwer (Moriarty 2020). Schon die große Zahl an Infektionen wird also zu einer enormen Anzahl behandlungsbedürftiger Patienten führen. Medikamentöse Optionen sind dringend notwendig.

Seit einigen Jahren wird immer wieder der alte HIV-Proteaseinhibitor (PI) Lopinavir genannt, wenn es um Infektionen mit Coronaviren geht. Im Rahmen einer ART wird Kaletra®, das mittlerweile generisch verfügbar ist, kaum noch eingesetzt, nicht nur aufgrund der Pillenzahl (vier pro Tag). Jede/r Behandler/in weiß um die
Diarrhoen, die Dyslipidämie, das Interaktionspotential. Seit einigen Wochen kursieren Fallberichte bei Patienten mit COVID-19 und sorgen medial für großes Aufsehen. Im Folgenden wird die derzeitige klinische Datenlage (Stand 25. März) zusammengefasst.

Coronavirus

Schlüssel Proteinase

SARS-CoV-2 zählt wie auch SARS-CoV und MERS-CoV zu den Beta-Coronaviren. Mit SARS-CoV besteht zu 79,0% Übereinstimmung in der Nukleotidsequenz, mit MERS-CoV noch zu 51,8%. Die Proteinase ist ein Schlüsselenzym für Coronaviren, es gibt eine Fülle von Daten aus Labor- und Tierversuchen, sowohl zu SARS-CoV und MERS-CoV. Lopinavir scheint sowohl gegen MERS-CoV als auch gegen SARS-CoV antivirale Effekte zu haben und einen Post-Entry-Schritt im Replikationszyklus zu hemmen. In Zellkulturen war es unter vier von 348 gescreenten FDA-zugelassenen Medikamenten, bei denen ein Effekt in Zellkulturen bereits in niedrig-molekularen Konzentrationen gegen MERS-CoV nachgewiesen wurde (de Wilde 2020). Allerdings gibt es auch Laborarbeiten, die einen Effekt gegen Coronaviren an sich bezweifeln. Dies könnte an zu niedrigen Konzentrationen ungebundenen Lopinavirs liegen, die mit den in der HIV-Therapie üblichen Dosierungen erreicht werden (Chen 2004, Zhang 2004, Nukoolkarn 2008, Sheahan 2020).

Erfahrung bei SARS

Fazit

Jeder HIV-Behandler weiß um die gastrointestinalen Symptome und das Interaktionspotential, allerdings auch, dass sich ernste Nebenwirkungen in Grenzen halten. Für Darunavir gibt es bislang keine Daten. In schweren Fällen bleibt Lopinavir/r ziemlich sicher ohne einen Effekt. Bei leichten und moderaten Fällen ist er zumindest noch denkbar. Die SARS- und
MERS-Studien sind allerdings störanfällig, ebenso die vorläufigen Daten bei COVID-19. Nichtsdestotrotz wird Lopinavir/r in den chinesischen Empfehlungen weiterhin (7. Auflage, 4. März) als antivirales Medikament empfohlen.

Lopinavir wurde in China mit Beginn des Ausbruchs viel eingesetzt (Chen 2020), die chinesischen Leitlinien empfehlen es seit der ersten Ausgabe, die WHO sieht zumindest „einen gewissen Benefit“. Mindestens drei Fall-Kontroll-Studien zu SARS und MERS (Chan 2003, Chu 2004, Park 2019) weisen auf eine Wirkung hin, die
Datenlage ist allerdings dünn. So verglich eine retrospektive Studie aus Hong Kong 75 SARS-Patienten, von denen 44 sofort („initial“) behandelt wurden, 31 erst später („rescue“) bei klinischer Verschlechterung (Chan 2003). Die 44 sofort behandelten Patienten wurden mit 634 SARS-Patienten verglichen, die für Geschlecht, Alter, Komorbidität und LDH-Höhe „gematcht“ wurden. Die sofort mit Lopinavir/r behandelten Patienten hatten niedrigere Mortalität und Intubationsraten als ihre Kontrollen (2,3% versus 15,6%, 0 versus 11,0%). Bei der Rescue-Therapie gab es keine Unterschiede. Die Viruslast bei SARS scheint mit Lopinavir tatsächlich rascher zu sinken als ohne (Chu 2004).

Erfahrung bei COVID-19

Auch für COVID-19 wurden in den letzten Wochen Einzelfälle und kleine Fallserien beschrieben (Lim 2020, Liu 2020, Wang 2020), zum Teil auch mit anderen Wirkstoffen wie Umifenovir (Deng 2020). Allerdings sind diese angesichts der oft auch ohne Therapie rasch rückläufigen Viruslast wenig aussagekräftig. In einer kleinen Studie aus Singapur zeigte Lopinavir keinen Einfluss auf die SARS-CoV-2-Clearance in nasalen Abstrichen (Young 2020). Eine retrospektive Analyse fand bei 134 Patienten mit COVID-19-Pneumonie keine Unterschiede zwischen Lopinavir/r, Umifenovir und Kontroll-Patienten (Chen 2020). Nach 7 Tagen war die Covid-19-PCR in 72%, 83% und 77% negativ (P=0.79). Angesichts des unkontrollierten Designs blieb allerdings unklar, ob die Patienten mit Lopinavir/r kränker waren als die
anderen.

Erste gute Studie

Die erste größere, gut kontrollierte und offen randomisierte Studie bei 199 hospitalisierten Erwachsenen mit schwerer COVID-19-Erkrankung blieb ohne klinischen Nutzen über die Standardversorgung hinaus (Cao 2020). Auch der Anteil der Patienten mit nachweisbarer viraler RNA wurde durch Lopinavir/r nicht beeinflusst. Es bleibt derzeit unklar, ob die erreichten Plasmaspiegel für die frühe Behandlung milder Fälle oder als Postexpositionsprophylaxe ausreichen.

Für den bei der HIV-Infektion effektiveren PI Darunavir ist am 18. März in Spanien eine große Studie
(CQ4COV19) mit geplanten 3.040 (!) Teilnehmern angelaufen. Dabei werden Patienten mit milder Symptomatik unmittelbar nach positivem SARS-CoV-2-Test mit Darunavir/r und Chloroquin behandelt. Es gibt zudem Pressemitteilungen zu antiviralen Wirkungen von Darunavir in Zellkulturen (PM 2020). Hersteller Janssen-Cilag veröffentlichte am 13. März allerdings ein Schreiben an die EMA, wonach „Darunavir aufgrund vorläufiger, unveröffentlichter Ergebnisse eines in vitro Experiments wahrscheinlich keine signifikante Aktivität gegen SARS-CoV aufweisen wird – bei Verabreichung in der zugelassenen Dosis zur Behandlung von HIV-1-Infektionen.


Kommentar:

Das Deutsche Netzwerk Evidenz-basierte Medizin e.V. titelt auf seiner Webseite am 24. März: „COVID-19 wo ist die Evidenz?“. Ein solcher Ruf mag für Berufs-Skeptiker Programm, für Virologen und Epidemiologen durchaus legitim sein. Für Kliniker ist das wenig hilfreich. Soll man einen 80-jährigen Patienten mit KHK und einer
soeben diagnostizierten, bereits moderat symptomatischen COVID-19-Erkrankung lapidar mit „Wir brauchen mehr Daten“ vertrösten – oder ihm aber Lopinavir/r oder Hydroxychloroquin oder vielleicht sogar beides geben? Entscheidungen müssen jetzt getroffen werden, in diesen Tagen, gemeinsam mit den Patienten. Eine Evidenz werden wir erst haben, wenn das hier vorbei ist.

1 Cao B, Wang Y,Wen D, et al. A Trial of Lopinavir-Ritonavir in Adults Hospitalized with Severe Covid-19. NEJM 2020, March 18.

2 Chan KS, Lai ST, Chu CM, et al. Treatment of severe acute respiratory syndrome with lopinavir/ritonavir: a multicentre retrospective matched cohort study. Hong Kong Med J 2003, 9:399-406.

3 Chen F, Chan KH, Jiang Y, et al. In vitro susceptibility of 10 clinical isolates of SARS coronavirus to selected antiviral compounds. J Clin Virol 2004, 31:69-75.

4 Chen J, Ling Y, Xi XH, et al. Efficacies of lopinavir/ritonavir and abidol in the treatment of novel coronavirus pneumonia. Chinese Journal of Infectious Diseases 2020, 38(0):E008-E008.

5 China National Commission. Chinese Clinical Guidance for COVID-19 Pneumonia Diagnosis and Treatment (7th edition). March 4, 2020.

6 Chu CM, Cheng VC, Hung IF, et al. Role of lopinavir/ritonavir in the treatment of SARS: initial virological and clinical findings. Thorax 2004, 59:252-256.

7 Deng L, Li C, Zeng Q, et al. Arbidol combined with LPV/r versus LPV/r alone against Corona Virus Disease 2019:a retrospective cohort study. J Infect. 2020 Mar 11.

8 de Wilde AH, Jochmans D, Posthuma CC, et al. Screening of an FDA-approved compound library identifies four small-molecule inhibitors of Middle East respiratory syndrome coronavirus replication in cell culture. Antimicrob Agents Chemother 2014, 58:4875-84.

9 Lim J, Jeon S, Shin HY, et al. Case of the Index Patient Who Caused Tertiary Transmission of COVID-19 Infection in Korea: the Application of Lopinavir/Ritonavir for the Treatment of COVID-19 Infected Pneumonia Monitored by Quantitative RT-PCR. J Korean Med Sci 2020 Feb 17;35(6):e79.

10 Liu F, Xu A, Zhang Y, et al. Patients of COVID-19 may benefit from sustained lopinavir-combined regimen and the increase of eosinophil may predict the outcome of COVID-19 progression. Int J Infect Dis. 2020 Mar 12. pii: S1201-9712(20)30132-6.

11 Moriarty LF, Plucinski MM, Marston BJ, et al. Public Health Responses to COVID-19 Outbreaks on Cruise Ships – Worldwide, February-March 2020. MMWR Morb Mortal Wkly Rep. ePub: 23 March 2020. DOI: http://dx.doi.org/10.15585/mmwr.mm6912e3external icon

12 Nukoolkarn V, Lee VS, Malaisree M, et al. Molecular dynamic simulations analysis of ritonavir and lopinavir as SARS-CoV 3CL(pro) inhibitors. J Theor Biol 2008, 254:861-867.

13 Park SY, Lee JS, Son JS, et al. Post-exposure prophylaxis for Middle East respiratory syndrome in healthcare workers. J Hosp Infect 2019, 101:42-46.

14 Sheahan TP, Sims AC, Leist SR, et al. Comparative therapeutic efficacy of remdesivir and combination
lopinavir, ritonavir, and interferon beta against MERS-CoV. Nat Commun 2020, 11:222.

15 Wang Z, Chen X, Lu Y, Chen F, Zhang W. Clinical characteristics and therapeutic procedure for four cases with 2019 novel coronavirus pneumonia receiving combined Chinese and Western medicine treatment. Biosci Trends 2020.

16 Young BE, Ong SW, Kalimuddin S, et al. Epidemiologic Features and Clinical Course of Patients Infected With SARS-CoV-2 in Singapore. JAMA 2020 Mar 3.

17 Zhang XW, Yap YL. Old drugs as lead compounds for a new disease? Binding analysis of SARS coro-navirus main proteinase with HIV, psychotic and pa-
rasite drugs. Bioorg Med Chem 2004, 12:2517-21.

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