Interview mit Prof. Hans-Jürgen Stellbrink, DAIG-Präsident, Hamburg
Forschung in Zeiten von COVID-19

COVID-19 hat in den letzten Monaten die wissenschaftliche Szene beherrscht. Es wurden unglaublich viele Arbeiten in atemberaubender Geschwindigkeit veröffentlicht. Was ist da passiert im Hintergrund?

Prof. Hans-Jürgen Stellbrink DAIG-Präsident Hamburg

Prof. Hans-Jürgen Stellbrink

DAIG-Präsident

Hamburg

Stellbrink: Ja, da hat sich viel und schnell geändert. Es gab und gibt plötzlich Forschungsgelder aus neuen Töpfen, z.B. Ministerien, und die Wege zu den Förderungen wurden deutlich kürzer. Ob darunter auch die Konzeption und die Qualität der Prüfung der Projekte gelitten hat, wage ich nicht zu beurteilen. Ähnliches gilt auch für die Publikationen. Arbeiten wurden und werden so schnell publiziert, dass keine Zeit für den üblichen Peer Review Prozess bleibt. Getrieben wird dieser Prozess einerseits durch die Dynamik der Pandemie, aber nicht zuletzt auch von den Eigeninteressen der Beteiligten, d.h. von Politikern, Journals und nicht zuletzt von den Wissenschaftlern selbst. Virologen – kaum jemand wusste früher, was die so machen – sind die neuen Fernsehstars.

Welche Auswirkungen hat diese Verschiebung auf andere Forschungsbereiche, konkret auf die HIV-Forschung?

Geschätzte Anzahl der Patienten mit HIV* (Gesamtdaten von übermittelnden Websites) 82556
Geschätzte Anzahl der Patienten mit HIV* (Gesamtdaten von übermittelnden Websites) 82556

Geschätzte Anzahl der Patienten mit HIV* (Gesamtdaten von übermittelnden Websites) 82556

Stellbrink: Im Augenblick sind alle anderen Forschungsbereiche im Stillstand. Aufgrund der Kontaktsperre wurden klinische Studien verschoben, teils um Monate, und in laufenden Studien fielen Visiten aus. In unserem Zentrum beispielsweise musste ein Studien-Patient wegen der Kontaktsperre von der Spritzentherapie auf Tabletten umgestellt werden. Am wenigsten betroffen ist die HIV-Forschung im Labor, auch wenn sich die Kapazitäten für die Routine-Diagnostik zugunsten von SARS-CoV-2 verschoben haben.

Wie sieht es mit den Forschungsgeldern für HIV aus? Ist da noch etwas übrig nach COVID-19?

Stellbrink: Die zugesagten Fördersummen werden wohl fließen, aber generell muss man sagen: Die HIV-Forschung ist schon seit Jahren unterfinanziert. Der HIV-Bereich wird unter Infektionsforschung subsummiert, da wird HIV mit STI, Hepatitis usw. kombiniert. Das wird sich durch COVID-19 nicht zum Besseren wenden.

Und HIV und COVID-19? Da sind ja schon mehrere Datensammlungen am Start…

Stellbrink: Das ist richtig, es sind sehr viele Datensammlungen initiiert worden. Solche Kohorten sind sinnvoll und hilfreich, um rasch wichtige klinische Fragen zu beantworten, z.B. ist HIV ein Risikofaktor für einen schweren Verlauf von COVID-19? Diese Frage können wir nur anhand einer raschen Fallsammlung beantworten. Kürzlich wurde auch schon eine kleine Fallserie mit 32 HIV-Patienten aus Deutschland publiziert. Das ist großartig, allerdings muss man bedenken, dass kleine Fallzahlen weniger zuverlässig sind als große Fallzahlen. Deshalb hat das NEAT-Konsortium eine europäische Datenbank zu COVID-19 bei HIV, HCV und HBV eingerichtet (https://www.neat-id.org/) und auch im LEOSS-Register des DZIF können HIV-Positive eingeschlossen werden.

Social Distancing hat auch zur Folge, dass alle Kongresse abgesagt werden bzw. nur virtuell stattfinden, so die CROI, die MAHT, der WeltAids-Kongress, der KIT um nur einige HIV-Kongresse zu nennen.

Stellbrink: Ja, das empfinde ich als großen Verlust. Zur Wissenschaft gehört der wissenschaftliche Austausch. Das ist derzeit komplett verloren gegangen. Arbeiten werden wie erwähnt ohne Peer Review einfach publiziert. Selbst Herr Drosten hat die Sequenz des Virus einfach ins Internet gestellt. Kongresse finden online statt und es gibt kaum Möglichkeiten, Fragen zu stellen. Es fehlen der persönliche Austausch im Plenum und auch die Gespräche nach dem Vortrag vor der Tür. Selbst bei den zunehmend virtuellen Studienmeetings ist die Interaktivität eingeschränkt, ganz abgesehen von den immanenten technischen Problemen.

Die Diskussion von wissenschaftlichen Ergebnissen findet derzeit ja wohl eher in den Publikumsmedien statt…

Stellbrink: Das ist ein interessantes Phänomen. Die Politik nutzt wissenschaftliche Aussagen für ihre Zwecke und die werden dann in den Medien zerpflückt. Einige Wissenschaftler haben sich ja in die erste Reihe neben Politiker gestellt – aus welchen Gründen auch immer. Andere haben die Gefahr der Medien erkannt und sich weitgehend aus der Presse zurückgezogen. Wissenschaftliche und politische Kommunikation funktionieren eben nach anderen Gesetzen.


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