Gemeinsam schaffen wir die 100.000!
Das vielzitierte Wort von der Krise als Chance: Bei der Substitution trifft es zu. Viele Opioidkonsument_innen haben in den letzten Monaten neu mit einer Substitutionstherapie begonnen. Das hat zum einen mit Problemen im Alltag zu tun: Sowohl Substanzen als auch das erforderliche Geld waren plötzlich viel schwerer zu beschaffen als zuvor. In dieser Situation wurde Substitution attraktiver. Vor allem aber haben gelockerte Rahmenbedingungen den Weg in die Therapie erleichtert.
Luft nach oben
Aufbauend auf den neuen Entwicklungen und Erfahrungen, ist es möglich, noch deutlich mehr Menschen für eine Substitutionsbehandlung zu gewinnen. Die Deutsche Aidshilfe, der akzept Bundesverband und das Selbsthilfenetzwerk JES starten darum im August eine Kampagne. Ziel: 100.000 Substituierte bis zum Jahr 2022. Dies entspräche einer Abdeckungsrate der Substitutionsbehandlung von etwa 60 Prozent aller Opioidabhängigen in Deutschland.
Zum Vergleich: Nachbarland Frankreich erreicht bereits 85 Prozent, auch andere Nachbarländer haben bessere Quoten. „Bei uns ist noch viel Luft nach oben“, sagt Dirk Schäffer, Referent für Drogen und Strafvollzug der Deutschen Aidshilfe.
Neue Spielregeln
Die Bedingungen für mehr Substitution sind günstig wie nie zuvor: 2017 wurde die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtmVV) reformiert. Im Zentrum steht nicht mehr das Ziel der völligen Abstinenz, sondern die Schadensminderung.
Die neue Fassung erleichtert eine wohnortnahe Substitution, zum Beispiel in Drogenhilfeeinrichtungen, und erlaubt eine Ausweitung der eigenverantwortlichen Einnahme („Take Home“). Ärzt_innen haben nun mehr Rechtssicherheit und Entscheidungsspielräume. Den Beikonsum anderer Substanzen gilt es nicht mehr zu sanktionieren, sondern ohne Angst in der Behandlung zu thematisieren.
„Ziel der Kampagne ist auch, diese neuen Möglichkeiten noch stärker in der Praxis zur Anwendung zu bringen“, sagt Professor Heino Stöver, Vorsitzender des akzept Bundesverbands.
Reformmotor Corona
Angesichts der Corona-Pandemie wurden weitere Lockerungen bei der Take-Home-Vergabe eingeführt, damit weniger Patient_innen täglich in die Praxen und Ambulanzen kommen müssen. Dort wären Abstandsgebote sonst schwer einzuhalten. Darüber hinaus wurden unbürokratisch zusätzliche Vergabestellen geschaffen.
Die Ergebnisse sind ermutigend: Nicht nur haben sich mehr Menschen zur Substitution entschlossen, die meisten haben sich auch sehr verantwortungsbewusst gezeigt. Der illegale Handel von Substitutionsmedikamenten hat nicht zugenommen. Die coronabedingten Veränderungen gilt es darum zu verstetigen.
„Warum sollte etwas zurückgedreht werden, was sich bewährt hat?“, fragt Claudia Schieren vom Vorstand des JES Bundesverbands. „Die Pandemie zeigt sich hier als Reformmotor: Die unerwarteten Erfolge verweisen auf ein enormes Potenzial. Wir brauchen eine weitere Vereinfachung der Spielregeln und Erweiterung der Versorgungslandschaft.“
Es geht noch mehr!
Einen Beitrag leisten könnten zum Beispiel die Vergabe des Substituts in Apotheken, telemedizinische Betreuung und Depotpräparate. Das Arbeitsaufkommen der behandelnden Praxen durch tägliche Kontakte könnte verringert werden, sodass mehr Raum für neue Patient_innen entsteht – so würden auch finanzielle Einbußen der Praxen ausgeglichen. Es gilt dabei, die Kontaktfrequenz genau dort zu reduzieren, wo es therapeutisch möglich und hilfreich ist – ohne langjährige Patient_innen zu vernachlässigen.
„Diese Veränderungen müssen jetzt politisch ermöglicht und in der Praxis etabliert werden“, betont Dirk Schäffer.
Wann, wenn nicht jetzt?
Ein weiterer zentraler Baustein der Kampagne wird die direkte Ansprache von Opioidkonsument_innen sein. Dafür werden zurzeit verschiedene Medien entwickelt. Die Botschaft ist klar: Substitution macht dein Leben leichter – und ist jetzt leichter zu bekommen.
Um das große Ziel zu erreichen, wünschen sich die Initiator_innen der Kampagne weitere Unterstützung, auch durch Behandler_innen und ihre Fachgesellschaften. Weitere Partner_innen sind willkommen!
Quapsss hat’s gepackt!
Safer ChemSex-Packs
© DAH/Thomas Schützenberger
In einem bundesweiten Modellprojekt erprobt die Deutsche Aidshilfe zurzeit ein neuartiges Gruppenangebot für Chemsex-User mit dem Titel Quapsss („Qualitätsentwicklung in der Selbsthilfe für MSM*, die psychoaktive Substanzen im sexuellen Setting konsumieren“, siehe auch HIV&more 4/2019).
Ziel
des Projektes ist es, die Lebensumstände von Chemsex praktizierenden
MSM* zu verbessern und ihnen die
Reflektion ihrer Sexualität und
ihres Substanzkonsums zu ermöglichen.
Dabei setzt das Programm auf die
Verzahnung von dialogischen Selbsthilfeaktivitäten und speziell
entwickelten Kompetenzförderungstrainings.
Gruppen starten bis Herbst
Ursprünglich sollten sich die Gruppen von Januar bis Dezember 2020 treffen. Aufgrund der SARS-CoV-2-Pandemie mussten sie allerdings gleich zu Beginn ausgesetzt werden. Das Angebot in ein Online-Format zu übertragen, kam nicht infrage. Denn Quapsss funktioniert über vertrauensvolle Gruppendynamiken und fokussiert auf sehr intime Themen wie Sexualität, Substanzkonsum, Körperwahrnehmung, Selbstbestimmung und soziale Interaktionen. Im Mittelpunkt stehen daher die persönlichen Begegnungen in der Gruppe.
Ein Online-Format half allerdings, die bereits gebildeten Gruppen für eine Übergangszeit aufrechtzuerhalten. Mittlerweile sind die geplanten Angebote in München, Berlin und Hamburg gut angelaufen. In Frankfurt und Kassel werden weitere Teilnehmer* gesucht. In Köln bestehen zurzeit noch Anlaufschwierigkeiten. Einige lokale Kooperationspartner* planen derweil bereits weitere Quapsss-Gruppen – aufgrund des hohen Zulaufs und der coronabedingt eingeschränkten Teilnehmerzahlen. Bis Oktober 2020 werden neue Angebote starten. Das Bundesministerium für Gesundheit hat die Förderung des Modellprojektes dementsprechend verlängert.
Abstinenz oder Konsum?
Da Quapsss bezüglich der persönlichen Ziele den Teilnehmer* keine Vorgaben macht, gibt es zwei verschiedene Arten von Gruppen: Die einen richten sich an Männer*, die nicht mehr konsumieren wollen, die anderen setzen auf kontrollierten Konsum. Während sich die abstinenzorientierten Angebote eines regen Interesses erfreuen, haben die Gruppen zum kontrollierten Konsum überraschenderweise bisher wenig Zulauf. Eine Ausnahme bildet Berlin.
Kreativ im Lockdown
Nun ist die Zielgruppe prinzipiell schwer erreichbar, erforderlich ist sehr spezifische Werbung für die Angebote über passende Kanäle. Das Quapsss-Team hat darum den Corona-Lockdown genutzt, um ein ganz besonderes Medium zu entwickeln: „Safer ChemSex-Packs“ werben einerseits für die Teilnahme und vermitteln zugleich Wissen zu Safer Use und Safer Sex. Es gibt verschiedene Päckchen für verschiedene Konsumformen: Sniefen (nasal), Slamming (intravenös), Booty Bump (rektal) und G-Pack (oral). Ärzt_innen, Berater_innen und Vorortarbeiter_innen können sie an Chemsex praktizierende MSM* ausgeben.
Kurz: Die Pandemie zwingt uns alle zu einer hohen Flexibilität. Mit den Kooperationspartnern* suchen und finden wir individuelle Lösungen. Quapsss ist am Start – jetzt erst recht!
„Safer ChemSex-Packs“:
urs.gamsavar@dah.aidshilfe.de