Weltaidskongress · 6.-10. Juli 2020
Virtuell nicht überzeugend!
Treffen im digitalen Raum sind nie so intensiv wie persönlicher Kontakt, dennoch blieb dieser virtuelle Kongress trotz langer Vorbereitungszeit weit hinter den Erwartungen zurück. Es war schwierig, sich nach dem Eintritt über eine graphisch schön gestaltete Startseite einen Überblick zu verschaffen.
Der Zugang zu Live-Schaltungen war manchmal (wegen Überlastung?) nicht möglich und eine Diskussion nach der Präsentation kam in der Regel nicht zustande. Oder lag es an den fehlenden „Knaller“, dass dieser Kongress auch innerhalb der HIV-Medizincommunity deutlich weniger Beachtung fand?
Problem Gewicht
Die Gewichtszunahme gilt mittlerweile als bekannte Nebenwirkung der ART und zwar insbesondere von TAF und den Integrasehemmern der zweiten Generation. In der Studie ADVANCE nahmen 1.053 therapienaive Afrikaner unter DTG+TDF/FTC bzw. DTG+TAF/FTC auch nach 48 Wochen weiter kontinuierlich deutlich mehr an Gewicht zu als unter EFV+TDF/FTC. Sogar die vorläufige Auswertung der 144-Wochendaten einer kleineren Patientenzahl zeigte weiterhin einen ungebrochenen Trend zur Zunahme von Fettgewebe bei beiden Geschlechtern (Abb. 1) (Venter F et al., OAXLB0104). Wenig überraschend: Der Anteil von Patienten mit metabolischem Syndrom stieg parallel zum höheren Körpergewicht unter den modernen Regimen (Sokhela S et al., OAXLB 0104). Die Gewichtszunahme war unabhängig von gastrointestinalen Nebenwirkungen und führte nicht zu einer erhöhten Rate an Therapieabbrüchen. Letzteres könnte kulturelle Hintergründe haben. Immerhin hieß HIV/Aids in Afrika „Slim Disease“. Wer dick ist, kann also nicht krank sein.
Abb 2b OPERA-Kohorte: Veränderung Körpergewicht nach Switch von TDF auf TAF sowie Wechsel auf einen INSTI
Die Gewichtszunahme unter ART ist aber nicht nur ein afrikanisches Problem. In der amerikanischen OPERA-Kohorte (n>115.000) legten Patienten unter einem konventionellen 3er-Regime beim Switch von TDF auf TAF in den ersten neun Monaten Gewicht zu, wobei der Effekt bei einem Integrasehemmer-basierten Regime stärker ausgeprägt war als unter einem NNRTI oder geboosterten Proteasehemmer als Third Agent (Abb. 2a). Am meisten nahmen Patienten unter Biktegravir zu (+4,47 kg/Jahr), wobei hier die Aussagekraft aufgrund der kurzen Beobachtungsdauer am schwächsten ist (Abb. 2b) (Mallon P et al., OAB0604). Ähnlich gering wie unter EFV+TDF/3TC scheint die Zunahme unter der NNRTI-Fixkombination Doravirin/TDF/3TC zu sein. In DRIVE-SHIFT (n=656) nahmen die Teilnehmer nach Umstellung von verschiedenen Regimen auf DOR/3TC/TDF innerhalb von 2 Jahren lediglich rund 1,4 kg zu. 25% hatten zu Woche 144 mehr als 5% des Ausgangsgewichts zugenommen. Die Teilnehmer dieser Studie waren zu 83% Männer und zu 77% weiß (Kumar P et al., PEC074).
Ursachen unklar
Die Ursachen für die Zunahme an Körperfett sind unklar. Gegen das Argument, es handele sich dabei um die therapiebedingte Rückkehr zum Normalzustand, spricht die prospektive ADVANCE-Studie. Auch die Auswertung der Daten der großen amerikanischen Krankenversicherung Kaiser Permante spricht gegen eine Normalisierung. Hier hatten HIV-Positive (n= 8.200, 83% Männer) zu Beginn einen geringeren BMI als Menschen ohne HIV (n=130.000), nahmen dann unabhängig vom Ausgangsgewicht unter ART dreimal schneller zu und hatten nach 12 Jahren einen etwas höheren BMI als die HIV-Negativen (Silverberg MJ et al. 8747).
Die Frage, welche Rolle einzelne Substanzklassen bzw. Substanzen spielen und ob TDF die Gewichtszunahme bremst und/oder TAF sie fördert, kann bislang keine Studie beantworten. Ungeklärt ist ferner der Verlauf der Gewichtszunahme. Während Therapie-naive in ADVANCE kontinuierlich über 144 Wochen weiter zunahmen, deuten Kohortenauswertungen vor allem bei Switch-Patienten auf ein Plateau nach neun Monaten.
Weniger Zunahme bei 2DR?
Was tun bei einer übermäßigen Gewichtszunahme unter ART? Bisher gibt es dazu keine gezielten Untersuchungen. Könnte eine Umstellung auf ein duales Regime helfen? In TANGO, in der von einem TAF-basierten Regime mit drei oder vier Substanzen auf die duale Kombination Dolutegravir/3TC umgestellt bzw. weiterbehandelt wurde, gab es im Hinblick auf das Gewicht keinen gravierenden Unterschied. 4% bzw. 3% der Teilnehmer nahmen >10% ihres Ausgangsgewichtes zu. Das Lipidprofil und die Insulinresistenz waren jedoch unter der dualen Therapie signifikant günstiger, wenn von einem geboosterten Regime umgestellt wurde (van Wyk J et al. OAB0606). Unter dem neuen Regime Islatravir/Doravirin, das sich derzeit noch in der Entwicklung befindet, nahmen nach 48 Wochen 38% der Patienten >5% vom Ausgangsgewicht zu, unter Doravirin + TDF/3TC 23% (Dejesus E et al., OAB0305).
Heilung: Der brasilianische Patient
Auch auf dieser Konferenz wurde über eine Heilung berichtet. Ein brasilianischer Patient, der (nur) mit einer intensivierten ART behandelt wurde, hat nach Absetzen seiner Medikamente nun seit 15 Monaten keine nachweisbare Viruslast und die Antikörper gegen HIV verschwinden. Der Mann erhielt im Oktober 2012 sein HIV-positives Testergebnis; seine CD4-Zellzahl zu diesem Zeitpunkt betrug 372 Zellen/µl, seine Viruslast über 20.000/ml – dies deutet auf eine bereits chronische Infektion. Zwei Monate später wurde eine Behandlung mit Efavirenz, AZT/3TC eingeleitet. 2014 wurde AZT durch TDF ersetzt. Im September 2015 wurde er in die SPARC-7-Studie aufgenommen. Zusätzlich zu seiner bisherigen ART erhielt er nun noch Dolutegravir, Maraviroc und Nicotinamid. Nicotinamid wurde gewählt, weil es verschiedene erwünschte Effekte hat: Es bewahrt erschöpfte T-Zellen vor der Apoptose und ist auch ein HDAC-Inhibitor, der möglicherweise verhindert, dass HIV nach der Infektion einer Zelle in ein latentes Stadium eintritt, bzw. bereits latentes HIV reaktivieren kann.
Nach 48 Wochen dieser intensivierten Behandlung erhielt der Patient wieder seine vorherige ART, wobei nach einiger Zeit Efavirenz durch Nevirapin und später durch Dolutegravir ersetzt wurde. Im März 2019 wurde eine analytische Therapiepause begonnen. Bis heute blieb die Viruslast unter der Nachweisgrenze. Der letzte berichtete Test war am 22.6.2020 – also mindestens 65 Wochen ohne ART. Die Anzahl der CD4-Zellen war während der intensivierten Behandlung stabil, stieg nach Rückkehr zur Standardtherapie an und fiel mit Beginn der Therapiepause ab. Marker für die CD8-Zell-Aktivierung fielen mit Beginn der intensivierten Therapie und blieben unter dem Ausgangswert.
Die virale DNA stieg mit Beginn der intensivierten Therapie an – ein Hinweis, dass vielleicht latentes HIV reaktiviert wurde und fiel mit Rückkehr zur Standard-ART unter die Nachweisgrenze. Auch die HIV-DNA im Darm nahm während der intensivierten Therapie ab. Weitere Untersuchungen, z.B. an Lymphknoten, wurden wegen der Corona-Krise verschoben. Auch die Menge an Antikörpern gegen HIV im Blut nahm im Laufe der Zeit ab; inzwischen ist sie so niedrig, dass ein herkömmlicher Schnelltest negativ ausfiel (Diaz RK et al., OAXLB0105).
Dolutegravir
Das Update der afrikanischen TSEPAMO-Studie zeigt keine signifikant erhöhte Rate von Neuralrohrdefekten unter Dolutegravir bei der Konzeption. Bei der initialen Auswertung im Mai 2018 fand sich eine erhöhte Missbildungsrate unter DTG vs. non-DTG (0,94% vs. 0,12%, Unterschied Prävalenz 0,82%) – allerdings bei deutlich weniger Geburten unter Dolutegravir als unter anderen Regimen. In den Auswertungen ein Jahr später sowie in der aktuellen Analyse (April 2020 >3.500 Geburten) waren Neuralrohrdefekte statistisch nicht signifikant häufiger (0,30% vs. 0,10%, Differenz Prävalenz 0,20% bzw. 0,19% vs. 0,11%, Differenz Prävalenz 0,09%) (Zash R et al., OAXLB01). Allerdings warnt die Gruppe um Andrew Hill aufgrund der starken Gewichtszunahme in der ADVANCE-Studie vor der Gefahr der erhöhten Missbildungsrate bei adipösen Müttern (Asif S et al., OABLB0103).
Das 2DR-Regime Dolutegravir/3TC hat sich auch in der Praxis bewährt. Bei der Analyse von 12 „Real World“ Switch-Studien (n=3.039) waren zu Woche 48 bzw. 96 weiterhin 88% bzw. 86% (Snapshot) sowie 99% bzw. 98% (on treatment) der Teilnehmer virologisch supprimiert. Ein virologisches Versagen wurde bei 1% bzw. 2% beobachtet, allerdings ohne resultierende Resistenz-Mutation. 12% bzw. 15% hatten die Behandlung abgebrochen (Punekar Y et al., PDB0103).
Biktegravir
In BICSTaR (n=613) wurde die Fixkombination BIC/TAF/FTC im klinischen Alltag bei therapienaiven sowie Switch-Patienten beobachtet. Die virologische Wirksamkeit war sehr gut. Nach sechs Monaten lag die Viruslast bei 89% der Therapienaiven <50 Kopien/ml sowie bei 94% der Vorbehandelten. Von den 14 unbehandelten Patienten mit M184V/I hatten 93% dies Ziel erreicht sowie 1/1 Patient mit einer K65R und 1/1 Patient mit einer G140S. Das Regime gewechselt hatten nur 1% der Therapienaiven (1% wegen Nebenwirkungen) und 5% der Vorbehandelten (4% wegen Nebenwirkungen). Therapienaive Patienten legten in den 24 Wochen im Schnitt 3 kg zu, vorbehandelte Patienten 0,6 kg, wobei die Gewichtszunahme insgesamt nur bei 2% als Nebenwirkung der ART klassifiziert wurde (Robineau O et al., PEB0229).
Ein Switch auf Biktegravir/TAF/FTC ist auch bei älteren Menschen kein Problem. In einer gepoolten Analyse von vier Switch-Studien (n=140 ≥65 Jahre) war die Wirksamkeit sehr gut. Die Viruslast lag bei 92% zu Woche 48 unter 50 Kopien/ml, es wurde kein virologisches Versagen dokumentiert. Auch im Hinblick auf die Verträglichkeit gab es keine Probleme. 1,4% der Teilnehmer hatten leichte unerwünschte Wirkungen, 10% Laborauffälligkeiten und 3% wechselten die Therapie wegen Nebenwirkungen. Die Gewichtszunahme in den 48 Wochen betrug 1 kg, die eGFR nahm um -2.7 ml/Min ab und 4% begannen mit einem Lipidsenker (Ramgopal M et al., OAB0403). Der Switch von EFV/TDF/FTC auf BIC/TAF/FTC führte in einer offenen amerikanischen Studie (n=91) insbesondere zu einer Verbesserung der Schlafqualität und der Lipide bei einer nur geringen Gewichtszunahme von 1 kg über 48 Wochen (Lowman E et al., PEB0359).
Lamivudin bei schlechter Niere
Bei einer eingeschränkten Nierenfunktion eGFR (30 bis 49 ml/Min) wird eine Dosisanpassung von 3TC empfohlen. Eine Auswertung der amerikanischen OPERA-Kohorte ergab, dass die volle Dosierung von 300 mg im Vergleich zu 150 mg lediglich das Risiko von moderaten gastrointestinalen Nebenwirkungen erhöht (12% vs. 5%). Die Autoren empfehlen eine individuelle Risikoabwägung (Mounzer K et al., PEB0217).
Neue Medikamente
Die Zukunft gehört Long Acting. Am weitesten in der Entwicklung ist der neue NRTTI Islatravir, das in Kombination mit dem NNRTI Doravirin als duales Regime geprüft wird. In einer Phase-IIb-Studie (n=121, CD4>200) erhielten therapienaive Patienten DOR/TDF/3TC oder Islatravir/DOR/3TC. Teilnehmer in der Islatravir-Gruppe mit einer Viruslast <50 Kopien/ml wurden dann mit dem dualen Regime Islatravir/Doravirin weiterbehandelt. Beide Strategien führten zum Erfolg: Nach 48 Wochen lag die Viruslast bei 84% vs. 90% unter der Nachweisgrenze. Ein virologisches Versagen wurde bei 4/90 Patienten unter der dualen Therapie und bei 1/31 unter der konventionellen Tripletherapie beobachtet. In allen Fällen lag jedoch nur eine niedrige Viruslast <80 Kopien/ml vor und es gab keinen Anlass zur Resistenztestung (Abb. 3). Die häufigsten Nebenwirkungen waren milde Kopfschmerzen, Übelkeit und Diarrhoe. Relevante Veränderungen der metabolischen Parameter inklusive Lipide und Blutzucker wurden nicht beobachtet (Orkin C et al., OAB0302; DeJesus E et al., OABO305).
Abb 3 ISL + DOR vs. DOR/3TC/TDF bei therapienaiven Patienten
Eine weitere vielversprechende Substanz ist der Kapsid-Inhibitor Lenacapavir. Pharmakokinetischen Untersuchungen zufolge muss die Substanz subkutan gespritzt möglicherweise nur alle sechs Monate appliziert werden. Mit Ausnahme von Injektionsreaktionen war das neuartige Medikament zudem auch recht gut verträglich (Begley R et al., PEB0265).
COVID und HIV
Die Sorge, dass HIV zu einem schwereren Verlauf von COVID-19 führt, hat sich – zumindest bei behandelten Patienten – nicht bestätigt. Sowohl in der großen amerikanischen Veteranen-Kohorte als auch einer englischen Kohorte waren Verlauf und Mortalität von HIV-Positiven und HIV-Negativen vergleichbar (Park LS et al., LBPEC23, Lee MJ et al., LBPEB09; Norcross C et al., LBPEB12). In Südafrika erhöhte HIV sowie Tuberkulose die Sterblichkeit (Davies MA et al., OAXLB0106). Risikofaktoren für einen schweren Verlauf waren überall eine unbehandelte HIV-Infektion sowie schwerer Immundefekt. Eine starke Zytokinreaktion scheint ebenfalls ein negativer Prädiktor zu sein. HIV-Patienten, die verstarben, wiesen unabhängig von Viruslast und CD4-Zahl höhere Zytokinspiegel auf als HIV-Positive, die COVID-19 überstanden (Patel V et al., OABLB0102).
Kommentar Siegfried Schwarze:
Hatten wir das nicht schon einmal? Eine Sensation während eines Kongresses? Heilung? Erinnern wir uns an das „Mississippi-Baby“, bei dem es nach Absetzen der ART mehr als zwei Jahre gedauert hat, bis die Viruslast schließlich doch wieder anstieg. Vermutlich ist es einfach zu schön, um wahr zu sein. „Post-Treatment-Controller“ kennt man ja schon lang, aber dieser Fall ist deshalb besonders, weil durch die abnehmenden Antikörper klar ist, dass das Immunsystem tatsächlich kein HIV mehr zu sehen bekommt. Ob das aber wirklich gleichbedeutend mit einer Heilung ist, kann nur die Zeit zeigen. Bei Timothy Brown, dem ersten (durch eine Knochenmarkstransplantation) geheilten Patienten hat man immerhin 10 Jahre gewartet, bis er offiziell als „geheilt“ erklärt wurde. Schließlich gibt es in diesem Fall noch vier weitere Patienten, die mit demselben Regime behandelt wurden und bei denen es nicht zu einer Remission kam.