Hartmut Stocker, Berlin und Roger Vogelmann, Mannheim
Glasgow – Rundblick zu HIV und mehr
Roger
Vogelmann, Mannheim
Antiretrovirale
Therapie und mehr
Man gewöhnt sich langsam an die virtuelle Version eines Kongresses. Es fällt einem zunehmend leichter, sich in der Fülle der Online-Informationen zurecht zu finden. Aber am Ende fühlt sich ein virtueller Kongress an wie eine Fertigmahlzeit, die man selber zu Hause in der Mikrowelle aufwärmt. Man kann sich damit ernähren, aber wer sich noch an ein richtig gutes Essen in einem der besseren Restaurants erinnert, wird schnell wehmütig.
Gewicht
Zum Thema Gewichtszunahme gab es wenig Neues. Bemerkenswert war dennoch die Keynote Lecture von Andrew Carr (HIV Glasgow, KL1), der die Fülle der Daten in einen größeren Zusammenhang setzte. Die Gewichtsdaten in den meisten Therapiestudien zeigen (mit Ausnahme der ADVANCE-Studie) eine Gewichtsveränderung +/- 2 kg. Dabei führen Tenofovirdisoproxil oder Efavirenz zu einem geringeren und Tenofoviralafenamid und/oder Integrase-Inhibitoren zu einem höheren Gewicht.
ART-Updates
Im Bereich der antiretroviralen Therapie gab es wichtige update Daten einiger bekannten Zulassungsstudien, die die bisherigen Ergebnisse bestätigen. Die Kombination einer dualen Therapie aus Islatravir und Doravirin zeigte auch nach 96 Wochen (HIV Glasgow, O415), die TANGO Studie (3TC/DTG vs. TAF based regime) nach 96 Wochen (HIV Glasgow, O441), die ALTLAS Studie (Cabotegravir/Rilpivirin) nach 96 Wochen (HIV Glasgow, P006), die GEMINI I+II Studien (3TC/DTG) nach 144 Wochen (HIV Glasgow, P018) und die DRIVE-shift Studie (Doravirin-Kombination DOR/3TC/TDF) nach 144 Wochen (HIV Glasgow, P037) eine sehr gute Suppression der HI-Viruslast bei gutem Nebenwirkungsprofil. Es wurden auch wichtige Real-World Daten von DTG/RLP (JUNGLE Studie, P039), DTG/3TC (URBAN Studie, P044) und Bictegravir (BICSTaR, P046) präsentiert, die die Ergebnisse der Zulassungsstudien bestätigen können.
Spritzen ohne lead in?
Interessant waren die Daten zu der Frage, ob bei der Injektionstherapie mit Cabotegravir und Rilpivirin eine orale „Lead-in“ Phase überhaupt notwendig ist (D’Amico, HIV Glasgow, O414). In der Phase III Studie FLAIR, die eine 4 wöchentliche intramuskuläre Injektion von CBV/RLP mit einer oralen Therapie mit ABC/3TC/DTG verglich, gab es nach 100 Wochen Therapie für die Teilnehmer*innen in dem oralen Standardarm die Möglichkeit, in den Injektionsarm CBV/RLP zu wechseln. Dabei konnten sie wählen, ob sie eine orale „Lead-in“ von 4 Wochen mit CBV/RLP haben wollten oder nicht. In den folgenden 24 Wochen zeigte sich kein Unterschied in Virussuppression und Nebenwirkungen zwischen den beiden Gruppen, so dass eventuell eine orale „Lead-in“ Phase bei einer Injektionstherapie nicht zwingend notwendig sein wird.
ART sofort
Das Konzept „Test-and-Treat“, der Beginn einer antiretroviralen Therapie beim ersten Arztbesuch, ist für Deutschland kein vordringliches Konzept, da die Patienten mit einer neu-diagnostizierten HIV-Infektion in der Regel zum zweiten Termin nach 1-2 Wochen wieder zurückkommen und dann die Entscheidung einer ART anhand der Labordaten getroffen werden kann. Trotzdem ist es eine spannende Frage, ob man mit der dualen Kombinationstherapie mit DTG/3TC auch eine „Test-and-Treat“ Strategie sicher durchführen kann, da einem der Hepatitis B Status fehlt und sich nicht jede(r) Behandler*in bei hoher Viruslast und einer niedrigen CD4-Zellzahl mit einer dualen Therapie sicher fühlen würde. Die STAT Studie, eine multizentrische, open-label, einarmige Phase IIIb Pilotstudie, möchte diese Frage beantworten (HIV Glasgow, P020). Es wurden 131 Patienten mit einer neudiagnostizierten HIV-Infektion beim ersten Arztbesuch mit DTG/ 3TC behandelt. In der Intention-to-treat Analyse war die Viruslast in 78% der Fälle nach 24 Wochen unter der Nachweisgrenze von <50 K/mL. Allerdings hatten 20 Patienten die finale Analyse aus verschiedenen Gründen verpasst, so dass bei der Auswertung von Patienten, die nach 24 Wochen eine Bestimmung der Viruslast erhalten haben, 92% unter der Nachweisgrenze waren. Von den Teilnehmer*innen hatten fünf eine Hepatitis B Infektion und eine(r) eine M184V Mutation. Diese konnten aber problemlos umgestellt werden und erreichten den primären Endpunkt einer Viruslast <50 c/mL nach 24 Wochen. Die Daten legen nahe, dass ein sofortiger Therapiebeginn ohne Kenntnis von Hepatitis B Status, Viruslast und Immunstatus und Resistenzen mit DTG/3TC möglich ist.
Neue Substanzen
Abb 1 Mittlere Veränderung HIV-RNA über 7 Tage
Es
wurden auch Daten zu neuen potentiellen Therapeutika präsentiert.
MK-8507 ist ein neuartiger NNRTI, der eine hohe antivirale Potenz
zeigt und trotz gängiger NNRTI Mutationen noch wirksam ist und
dessen Pharmakokinetik eine einmalige wöchentliche orale Einnahme
möglich macht. Die Substanz erreichte mit einer Dosis von 40 mg die
anvisierte Reduktion der HIV-1 Viruslast nach 7 Tage nach einer
einmaligen Einnahme (Abb. 1) (Ankrom, HIV Glasgow, O416). Es wurde
auch Daten zu der bereits bei der IAS 2020 vorgestellten Substanz
Lenacapavir präsentiert. Lenacapavir (LEN) ist eine long acting
Substanz und der erste Vertreter eines Capsid-Inhibitors, der sechs
Monate nach einer einzigen s.c. Infektion noch eine ausreichend hohe
Plasmakonzentration zeigt
(Begley, IAS 2020, PEB0265). Aktuell
wurden in Glasgow Resistenzanalysen aus der Phase 1b Proof-of-Concept
Studie vorgestellt (Margot, HIV Glasgow, O324). Von den teilnehmenden
Patienten (n=30) haben nur 2 eine Q67Q/H bzw. Q67H Mutation
entwickelt. Diese Mutation zeigte in vitro keine Beeinträchtigung
der Replikation in primären CD4-Zellen bei einer 6-fachen Resistenz
gegenüber LEN. Interessant dabei ist, dass die beiden Fälle bei den
beiden niedrigsten Dosisstufe von 20 bzw. 50 mg aufgetreten sind.
Diese sind nicht die Dosierungen, die man bei einer Therapie
verwenden würde, aber es stellt sich die Frage wie die
Resistenzentwicklung sein könnte, wenn die Plasmakonzentration
langsam abfällt und nach Therapieende über eine lange Zeit noch im
System verbleibt.
Zufrieden mit Ärzt*in?
Bereits beim World AIDS Kongress wurde gezeigt, welchen Einfluss eine gute Arzt-Patientenbeziehung auf die Gesundheit unserer Patienten hat (IAS 2020, PED0808, PED0773). In Glasgow wurden die europäischen Daten dieser weltweiten, webbasierten Umfrage präsentiert (Okoli et al., HIV Glasgow P033). 969 Teilnehmer haben dabei ihre Beziehung zu ihrem/r Behandler*in anhand einer modifizierten „Observing Patient Involvement (OPTION)“ Skala eingeschätzt. Bei einigen Themen, z.B. „Zufriedenheit mit der aktuellen HIV-Therapie“ oder „Behandler*in geht auf meine persönlichen Bedürfnisse und Bedenken ein“, lag die Zustimmung zwischen 60 und 75%, was nahelegt, dass es hier noch Luft nach oben gibt. Die Hauptaussage der Studie: PLWH empfinden ihre seelische, sexuelle oder körperliche Gesundheit als signifikant besser, wenn die Arzt-Patientenbeziehung als sehr gut eingeschätzt wird (Abb. 2).
Abb 2 Prozent der Menschen mit HIV mit positivem Gesundheits-Outcome in Abhängigkeit vom Engagement der Versorgung
HIV und Krebs
Die wichtige Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Rauchen und dem Immunstatus/Viruslast bei der Entstehung von verschiedenen Krebserkrankungen bei HIV-Positiven (PLWH) gibt, wurde von Mocroft et al. beantwortet (HIV Glasgow, O124). So könnte Nikotin möglicherweise einen gesteigerten karzinogenen Effekt haben, da Nikotinkonsum die Virusreplikation und damit die Inflammation verstärken kann. In der Studie wurden 29.432 PLWH in Europa und Australien prospektiv ab 2017 und retrospektiv bis 2012 untersucht. Die Patienten wurden anhand ihrer Viruslast und CD4-Zellzahl in drei Immunstatus-Kategorien eingeteilt („gut“ CD4>500 und VL<200; „schlecht“ CD4<350 und VL>200; und „intermediate“). Man konnte 513 Krebserkrankungen bei 507 Teilnehmern mit einer Inzidenz von 6,9/1.000 PYFU identifizieren. Die Studie konnte bestätigen, dass Rauchen bzw. ein schlechter Immunstatus zu einer höheren Tumorinzidenz führt. Aber es fand sich kein synergistischer Effekt von Nikotinkonsum und schlechtem Immunstatus (Abb. 3).
Abb 3 Zusammenhang von AC4 und Viruslast ist unabhängig vom aktuellen Raucher-Status
Hartmut
Stocker, Berlin
COVID-19
und mehr
Glasgow ist eine besondere Konferenz: Ohne Parallelveranstaltungen, ohne große wissenschaftliche Durchbrüche, aber mit einer wunderbaren Gelegenheit das Jahr und die Erkenntnisse, die es gebracht hat, Revue passieren zu lassen. Präsentiert von inspirierenden und motivierenden Wissenschaftlern, die den Teilnehmer*innen das Gefühl vermitteln, genau das richtige Fach gewählt zu haben. Und auch die Stadt Glasgow ist etwas ganz Besonderes wegen des Wetters und der Menschen, die den Eindruck erwecken, dieses Wetter nicht im Geringsten wahrzunehmen, seiner Architektur und Kunst – die Art Nouveau und Jugendstil beeinflusst haben – und dem unglaublichen Design seiner Subway, die eine der ältesten U-Bahnen der Welt ist.
COVID-19
Panel-Diskussion:
Welche Auswirkungen hat COVID-19 auf die medizinische Versorgung
und Wissenschaft?
Die Auswirkungen der Pandemie auf den Rest der Medizin wurden in mehreren Podien diskutiert unter anderem von der wunderbaren Chloe Orkin aus London mit einseitig rasiertem Kopf, violettem Halbhaar, violett getönter Brille auf einem violett gemusterten Sofa sitzend.
Corona
war in diesem Jahr prägend für die Veranstaltung, nicht nur weil
die Pandemie aus der Präsenzveranstaltung eine Online-Show gemacht
hat. Corona war auch inhaltlich prägend. Zu Beginn der Veranstaltung
stellte Karine Lacombe aus Paris die Essenz der Erkenntnisse zu
COVID-19 in einer schönen Übersicht zusammen (KL2 K Lacombe). Sie
erinnerte daran, dass COVID-19 nicht nur eine Erkrankung der
Lunge, sondern des gesamten
Organismus ist mit kutanen, renalen,
hepatischen, kardialen, gastrointestinalen, endokrinologischen und
neurologischen Manifestationen. Von den extrapulmonalen
Manifestationen waren ihr die
neuropsychiatrischen Auswirkungen
besonders wichtig, weil sie den Patient*innen
das Wahrnehmen der Hypoxämie und
die Einschätzung der eigenen
Situation erschwert. Nach durchgemachter
(pulmonaler) Erkrankung bleibt
gelegentlich ein Zustand mit emotionaler Instabilität, Irritabilität
und posttraumatischem Stresssyndrom zurück.
Remdesivir
In Bezug auf die antivirale Therapie der Corona-Virusinfektion stellte sie drei wichtige randomisierte prospektive Studien zu Remdesivir vor1-3, deren Daten zum Zeitpunkt der Konferenz veröffentlicht waren. Darunter die große ACTT-1 Studie2, deren Ergebnisse suggerieren, dass die Substanz – wenn früh genug bei sauerstoffpflichtigen (low-flow) Patient*innen eingesetzt – das Behandlungsergebnis ein wenig verbessern kann. In der Zwischenzeit – Glasgow ist schon wieder Schnee von gestern – wurde die Evidenz für einen potentiellen Nutzen von Remdesivir durch die SOLIDARITY4 Studie verwässert, so dass man leider zum Schluss kommen muss, dass Remdesivir zumindest keine Zauberkugel ist. Vermutlich gilt das auch für alle anderen antiviralen Therapieansätze.
Cortison wirkt
Karin Lacombe fasste auch die Erkenntnisse zur immunmodulatorischen Behandlung zusammen. Dexamethason bleibt bis auf Weiteres der einzige Pfeil im Köcher. Dexa bewirkt bei Patient*innen, die in die inflammatorische Phase der Erkrankung geraten und mehr als low-flow Sauerstoff benötigen, eine Reduktion der Mortalität (Abb. 1).5 Als weitere Hoffnung auf diesem Feld wurde von Cristina Mussini aus Modena Tocilizumab genannt. Sie diskutierte eine retrospektive Studie an Patient*innen mit schwerer COVID-19-Erkrankung. Der Einsatz von Tocilizumab war in dieser Kohorte mit einer geringeren Chance (odds) eines Fortschreitens der Erkrankung oder Tod assoziiert.6 Lacombe beurteilte die Studiendaten zu der Substanz weniger optimistisch, insbesondere weil die vom Hersteller des Medikaments gesponsorte prospektive COVACTA-Studie kein positives Ergebnis gebracht hatte. Weitere Daten sind abzuwarten und ein Wunder ist nicht in Sicht.
Abb 1 Effekt von Dexamethason bei COVID-19
CORONA – UND DIE FOLGEN
Abb 2 Negative Auswirkungen von HIV auf ART in Südafrika
Es war doch sehr beunruhigend zu hören, dass Karine Lacombe in ihrer Präsentation den subjektiven Eindruck vieler Infektiolog*innen bestätigte, dass während des ersten Lock down alle anderen Infektionskrankheiten fast verschwunden waren. Das war aber eher die Folge einer Verschiebung von Aufmerksamkeit und Ressourcen in Richtung Coronavirus. So berichtete Graeme Meintjes aus Kapstadt von einer dramatischen Abnahme der Tuberkulose-PCRs und einem Rückgang der ART-Neueinstellungen (Abb. 2). Der Grundtenor, der sich durch die Veranstaltung zog, war das sorgenvolle Mantra, dass die HIV-Versorgung durch SARS CoV-2 schwer beeinträchtigt ist. Aber Glasgow wäre nicht Glasgow, wenn am Ende nicht doch die optimistische Botschaft stehen würde, dass die Pandemie zugleich Anlass ist, eingefahrene Versorgungsstrukturen neu zu denken und den Patient*innen mehr Partizipation und Autonomie zu ermöglichen. Ein kleines Beispiel dafür kam vom Checkpoint in Zürich, der ein erfolgreiches Projekt zum Home Sampling (Häusliche Abnahme von Blut und Abstrichen durch PrEP User) in Form eines Posters vorstellte (P003 B Hampel).
COVID mit HIV
Die Frage, ob HIV-infizierte Menschen ein erhöhtes Risiko haben, schwer an COVID-19 zu erkranken und zu versterben, wurde natürlich auch diskutiert. In der Quizveranstaltung am Ende des zweiten Kongresstages, charmant von Roy Gulick aus New York und Chloe Orkin moderiert, war man sich einig: HIV ist kein Risikofaktor für einen komplizierten Verlauf. Alexandra Calmy aus Genf zauberte als Argumentationshilfe eine am selben Tag online erschienene Publikation aus der Tasche, die das Outcome von 50.167 COVID-19-Infektionen in den USA beschreibt.7 Von den Patient*innen waren 404 mit HIV infiziert. Im direkten Vergleich HIV-positiv versus HIV-negativ verstarben mehr Menschen mit HIV-Infektion. HIV-infizierte Patient*innen waren aber häufiger übergewichtige, rauchende Männer mit Bluthochdruck, Diabetes und Niereninsuffizienz, also mit den bekannten Risikofaktoren. Nach mathematischer Elimination dieser Risikofaktoren war der Einfluss der HIV-Infektion auf den Verlauf nicht mehr erkennbar. Man war sich also einig, dass HIV COVID-19 nicht noch schlimmer macht. Anna Maria Geretti aus Liverpool hielt mit einer fast 50.000 Menschen (darunter 123 Menschen mit HIV-Infektion) umfassenden Kohorte aus dem Vereinigten Königreich dagegen und kam ebenfalls nach mathematischer Adjustierung zum umgekehrten Schluss (O422 A Geretti). Was ist die Botschaft aus diesem Widerspruch? Der Autor dieser Zeilen kennt die Antwort leider auch nicht, schlussfolgert aber, dass das Risiko, das durch die HIV-Infektion per se entsteht – wenn es überhaupt existiert – so gewaltig nicht sein kann. Grund zur Hoffnung für unsere Patient*innen.
HIV-Teststrategien
Wie identifiziert man Patient*innen mit HIV-Infektion, die bisher nichts von Ihrer Infektion wussten? Eine wichtige Frage, auf die wir Antworten finden müssen, um die 95-95-95-0 Ziele von UNAIDS zu erreichen. Glasgow hat dazu einige Anregungen gegeben: Zunächst zum Indikatorgetriggerten Testen. Eine Studie aus Rotterdam ging der Frage nach, ob okkulte HIV-Infektionen mit Hilfe von im Krankenhaussystem dokumentierten HIV-Indikatoren identifiziert werden können (P127 C Jordans). Die Antwort war ja. Der negative Vorhersagewert war bei fehlendem Ausschlag des elektronischen Warnsystems mit >99% sehr gut. Der positive Vorhersagewert lag bei 14%, was angesichts der Suche nach der Nadel im Heuhaufen auch sehr gut ist. Bemerkenswert ist allerdings, dass nur ca. 40% der Patient*innen, die vom System als mögliche Kandidat*innen für einen HIV-Test identifiziert wurden, auch tatsächlich einen Test erhielten, was einmal mehr die Schwachstelle aller Indikator-Teststrategien aufzeigt, nämlich die Abhängigkeit von Ärzt*innen. Jean-Philippe Spano aus Paris (J Spano O123) schlug in seinem Übersichtsvortrag zu Screening und Therapie von Krebserkrankungen bei Patient*innen mit HIV in dieselbe Kerbe: Nach einer Krebsdiagnose ziehen nur 20% der Onkolog*innen immer, 30% manchmal und 40% niemals einen HIV-Test für ihre Patient*innen in Erwägung.
Pflegende bieten Test an
Aus Cascais in der Nähe von Lissabon kam ein alternativer Vorschlag zur Fallfindung, dessen Besonderheit die Unabhängkeit von der Disposition des Arztes ist („Clinician Independent Screening“). Im dortigen Krankenhaus erhielten alle Patient*innen (im Alter zwischen 18-65 Jahre) in der Notaufnahme von den Pflegenden ein Testangebot mit der Möglichkeit das Angebot abzulehnen. Nur 6,3% der in 16 Monaten behandelten 21.487 Patient*innen wollten keinen Test, womit klar wird, dass nicht die Patient*innen Probleme mit dem HIV-Test haben, sondern die Ärzt*innen. Von den 18.072 durchgeführten Tests waren 44 bestätigt positiv, was einer undiagnostizierten Prävalenz von 0,24% entspricht und damit über der Kosteneffizienzschwelle von 0,1% liegt. Im Vergleich zum Referenzzeitraum konnte die Testrate dramatisch verbessert werden und die positiv getesteten Menschen hatten im Durchschnitt 400 im Vergleich zu 200 Helferzellen/µl und der Anteil von Menschen mit einer Zellzahl unter 350/µl lag bei 42% im Vergleich zu 91% (P128 I Vaz Pinto).
Literatur beim Verfasser