Christian Hoffmann, Hamburg
HIV-Infektion und COVID-19
In dem vergangenen Heft HIV&more 2/2020 hat der Kollege Georg Härter die Datenlage bis zum Juni vorgestellt. In diesem Beitrag werden die Erkenntnisse der letzten Monate zusammengefasst.
Epidemiologie
Stand 12. November sind in Deutschland etwa 720.000 Infektionen gemeldet. Bei einer geschätzten Prävalenz von knapp unter 1% entspräche dies in der HIV-Population etwa 770 Fällen. Die Zahl der wirklich diagnostizierten Koinfektionen wäre also hierzulande vergleichsweise niedrig. In den USA ist dagegen angesichts der dortigen epidemiologischen Lage bereits mit 30-40.000 Fällen zu rechnen.
Bislang gibt es keine Hinweise für eine höhere Inzidenz. Mehrere Studien zeigten sogar tendenziell das Gegenteil: In großen Kohorten aus Barcelona, New York oder Großbritannien war der Anteil der HIV-Patienten teilweise sogar deutlich niedriger als erwartet. Dies ist zumindest auf den ersten Blick überraschend, da Menschen mit einer HIV-Infektion ein erhöhtes Risiko für andere infektiöse Erkrankungen haben. Einige Experten spekulierten deshalb bereits über mögliche „schützende“ Faktoren, darunter antivirale Therapien (siehe unten) oder auch die Immunaktivierung. Darüber hinaus könnte eine defekte zelluläre Immunität paradoxerweise vor einer schweren Zytokindysregulation schützen, wie sie in schweren COVID-19-Fällen auftritt. Andererseits könnten auch soziodemographische Faktoren eine Rolle spielen. Oder passen HIV-PatientInnen – in dem Wissen um ihre Grunderkrankung – in diesen Zeiten am Ende einfach ein bisschen besser auf sich auf? Sicher scheint zumindest, dass keine generell erhöhte Empfänglichkeit für eine SARS-CoV-2-Infektion besteht.
Risikofaktoren
Abb 1 Fallsterblichkeit und Alter >75, Europa/US
Abb 2 HIV Altersstruktur in Deutschland
Für COVID-19 ist eine Vielzahl klinischer Risikofaktoren beschrieben, die mit schwereren Verläufen und Mortalität assoziiert sind, darunter kardiovaskuläre Erkrankungen wie KHK und Hypertonus, aber auch Diabetes mellitus, hämatologische und pulmonale Vorerkrankungen. Diese werden allerdings von demographischen Faktoren überlagert und ein höheres Lebensalter ist der mit weitem Abstand wichtigste Risikofaktor (Abb. 1). So erklärt der Anteil der über 75jährigen an den bestätigten Diagnosen weltweit etwa 80-90% der Varianz in der Länder-spezifischen Case Fatality Rate (Hoffmann 2020). Staaten wie Südkorea oder Hong Kong mit einer niedrigen Zahl älterer Menschen unter den SARS-CoV-2-Diagnosen haben sehr niedrige CFR, Staaten mit einem hohen Anteil (wie Belgien, Italien) entsprechend eine hohe CFR. In den meisten europäischen Ländern macht die Altersgruppe Ü70 etwa 85% aller COVID-19 assoziierten Todesfälle aus. Vor diesem Hintergrund zeigt die Altersstruktur der HIV-Population in Deutschland ein vergleichsweise günstiges Bild – nur wenige Patienten sind 70 Jahre und älter (Abb. 2). Andererseits ist zu vermuten, dass durch eine „höhere Last“ an Komorbiditäten ein erhöhtes Risiko für HIV-PatientInnen besteht.
Mortalität
In einer großen Studie aus Südafrika war eine HIV-Infektion – wie übrigens auch die Tuberkulose – in der Tat unabhängig mit einer erhöhten Mortalität assoziiert (Boulle 2020). Unter den insgesamt 22.308 bis Juni diagnostizierten COVID-19-Fällen (davon 18% mit einer HIV-Infektion) lag die adjustierte Hazard Ratio (HR) immerhin bei 2,14 (95% CI 1,70-2,70). In einer britischen Untersuchung von insgesamt 45.592 Fällen (darunter 122 HIV-Patienten) war die Mortalität ebenfalls erhöht, und zwar auch nach Adjustierung auf Alter, Geschlecht und Komorbiditäten. Die adjustierte HR lag hier bei 1,47, unter den unter 60jährigen sogar bei 2,87 (Geretti 2020).
In der Kommunikation mit PatientInnen (die ja oft nach ihrem Risiko fragen) ist diese um den Faktor 1,5-2 moderat erhöhte Mortalität allerdings ins rechte Verhältnis zu setzten. Verglichen mit höherem Lebensalter ist dies ein geringer Effekt: Allein zwischen 60 und 70 Jahren verdreifacht sich in der Allgemeinbevölkerung die Fallsterblichkeit durch COVID-19. Zudem sind gerade große Kohortenstudien anfällig für unbekannte oder nicht erfasste Störfaktoren. Viele wurden bislang nur sehr ungenau oder gar nicht erhoben, man denke nur an einen schwer quantifizierbaren Faktor wie das Rauchen. Unter HIV-PatientInnen finden sich nach wie vor deutlich mehr RaucherInnen als in der Bevölkerung – die Pandemie ist übrigens ein hervorragender Grund, mal wieder über das Rauchen zu reden!
Immunsuppression als Risikofaktor
Abb 3 Gepoolte Analyse Madrid, Mailand, D (n=175) CD4-Zellen und COVID-19-Schwere
Abb 4 Gepoolte Analyse Madrid, Mailand, D (n=175) CD4 Nadir und CD4 aktuell, Mortalität
Es kann mittlerweile als gesichert gelten, dass zumindest ein schwerer Immundefekt bei einer SARS-CoV-2-Infektion ungünstig ist. In einer kombinierten Auswertung dreier Kohorten aus Madrid, Mailand und Deutschland mit insgesamt 175 Fällen (Abb. 3 und 4) hatten HIV-PatientInnen mit schwerem Verlauf deutlich niedrigere aktuelle CD4-Zellen und auch einen niedrigeren CD4-Nadir (Hoffmann 2020). In einer multivariaten Analyse blieb eine aktuelle CD4-Zellzahl unter 350/µl als einziger Risikofaktor für einen schweren Verlauf bestehen. Ein Nadir unterhalb von 200 CD4-Zellen/µ war mit einer erhöhten Mortalität assoziiert. Auch in einer anderen Auswertung von 286 HIV-infizierten PatientInnen (überwiegend aus den USA) war die Fallsterblichkeit bei weniger als 200 CD4-Zellen/µl erhöht (Dandachi 2020).
Es braucht also nicht länger über einen „protektiven“ Effekt einer Immunsuppression spekuliert werden. Das Gegenteil ist der Fall: Für das komplikationslose Ausheilen einer SARS-CoV-2-Infektion ist ein guter zellulärer Immunstatus essentiell. Gute CD4-Zellen schaden nicht! Sowohl CD4- als auch CD8-Zellen sinken übrigens während einer COVID-19-Erkrankung deutlich. Das Ausmaß des Abfalls korreliert ziemlich gut mit der Schwere der Erkrankung (Zhang 2020). Ob diese transiente Immunsuppression klinisch relevant ist und ob es auch langfristige immunologische Folgen gerade bei einer HIV-Infektion gibt, ist allerdings weiterhin unklar.
Antiretrovirale Medikamente
Die Hoffnungen auf einen protektiven Effekt antiretroviraler Therapien haben sich zumindest für die HIV-Proteasehemmer mittlerweile zerschlagen. Randomisierte Studien wie RECOVERY haben gezeigt, dass Lopinavir wohl keinen Effekt hat. Dies gilt auch für Darunavir. Bei Lopinavir dürften die mit konventionellen Dosen erreichten Plasmaspiegel um ein Vielfaches zu niedrig sein, Darunavir war schon in vitro wirkungslos.
Diskutiert wird weiterhin über Tenofovir, das einige chemische Ähnlichkeiten mit Remdesivir aufweist und mit hoher Bindungsenergie an die RNA-abhängige Polymerase von SARS-CoV-2 bindet. In der oben beschriebenen Studie aus Südafrika war TDF interessanterweise mit einer niedrigeren Mortalität (aHR 0,41 versus Abacavir oder AZT) assoziiert (Boulle 2020). Auch eine spanische Studie an 77.590 HIV-PatientInnen (darunter 236 Koinfektionen) suggerierte einen gewissen Effekt durch TDF. Verglichen mit TAF+FTC oder Abacavir+3TC war die SARS-CoV-2-Inzidenz unter TDF+ FTC niedriger. Erkrankte PatientInnen kamen mit TDF+FTC überdies weniger oft ins Krankenhaus und zeigten weniger schwere Verläufe (Del Amo 2020).
Allerdings war diese Studie sehr anfällig für Verzerrungen, die Fallzahlen blieben klein. Waren die PatientInnen unter TDF in dieser Kohorte am Ende einfach etwas gesünder als die Vergleichsgruppen? In unserer eigenen Auswertung sahen wir keinerlei Effekt durch Tenofovir, allerdings hatten die meisten PatientInnen TAF (und nicht TDF) erhalten. Gegen einen protektiven TDF-Effekt spricht auch eine Studie aus Madrid an 750 MSM, in der die Infektionsraten sowohl mit TDF/FTC als auch mit TAF/FTC bei insgesamt 500 PrEP-Anwendern nicht niedriger als bei 250 MSM ohne PrEP waren (Ayderdi 2020). Dennoch wird Kombination aus TDF+FTC weiterhin als SARS-CoV-2-Postexpositionsprophylaxe untersucht. Noch immer läuft EPICOS, eine große plazebokontrollierte Phase-III-Studie unter medizinischem Personal in Spanien und Südamerika. Ergebnisse lassen freilich weiter auf sich warten, die Rekrutierung läuft schleppend. Es ist still geworden um EPICOS – bei positiven Ergebnissen hätten wir vermutlich schon etwas gehört.
Kollateralschäden in Versorgung
Eine wachsende Sorge – gerade in Bezug auf HIV – ist der durch die COVID-19-Pandemie verursachte Kollateralschaden. In zahlreichen Ländern dürfte die Unterbrechung der Gesundheitsversorgung erhebliche negative Folgen haben, die über den direkten Schaden durch COVID-19 selbst hinausgehen. Lockdown-Maßnahmen und die Furcht vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 haben in mehreren afrikanischen Ländern bereits zu einem deutlichen Rückgang der Versorgung mit ART- und TBC-Medikamenten geführt (Adepoju 2020). Schätzungen zufolge dürfte eine nur dreimonatige Unterbrechung der ART-/HIV-Programme in Subsahara-Afrika bereits zu fast 300.000 AIDS-bedingten Todesfällen führen (Jewell 2020). Die Schäden betreffen jedoch nicht nur AIDS-Todesfälle. Auch Neuinfektionen dürften deutlich zunehmen, wenn so viele Menschen ihre Therapien unterbrechen, aber auch, wenn weniger getestet wird. Laut WHO sind dringend große Anstrengungen nötig, um die Kontinuität der HIV-Programme aufrechtzuerhalten.
auch hier Probleme
Auch hierzulande ist die Versorgung von HIV-PatientInnen in diesem Winter nicht immer einfach. Lockdown-Maßnahmen, aber auch die verständlichen Ängste der Betroffenen nehmen Einfluss auf die Behandlung. Wir versuchen derzeit vor allem, Unterbrechungen der Therapie zu vermeiden – in der ersten Welle im Frühjahr hat es diese durchaus vereinzelt gegeben. Blutuntersuchungen sollten nicht generell ausgesetzt werden; allerdings ist Augenmaß gefragt, kann individuell nachjustiert werden. Dies gilt auch für Late Presenter und ältere Menschen mit HIV.
Im ICH werden mittlerweile über 200 PatientInnen betreut, die älter als 70 Jahre sind. Bei diesen sind unnötige Risikokontakte unbedingt zu vermeiden. Das gilt insbesondere für lange Anfahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln und lange Wartezeiten in engen Wartezimmern. Dennoch sollte das Bunkern von Medikamenten vermieden werden. Was kann per Post, Telefon oder Telemedizin erledigt werden? Mögen diese Mittel das vertrauliche direkte Arztgespräch nicht immer ersetzen, so bieten sie dennoch gute Möglichkeiten, diese schwierige Zeit zu überstehen. Es wird nicht ewig so weiter gehen.
Adepoju P. Tuberculosis and HIV responses threatened by COVID-19. Lancet HIV 2020 May;7(5):e319-e320.
Ayerdi O, Puerta T, Clavo P, et al. Preventive Efficacy of Tenofovir/Emtricitabine Against Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 Among Pre-Exposure Prophylaxis Users. Open Forum Infectious Diseases, Volume 7, Issue 11, November 2020, ofaa455.
Boulle A, Davies MA, Hussey H, et al. Risk factors for COVID-19 death in a population cohort study from the Western Cape Province, South Africa. Clin Infect Dis. 2020 Aug 29:ciaa1198.
Dandachi D, Geiger G, Montgomery MW, et al. Characteristics, Comorbidities, and Outcomes in a Multicenter Registry of Patients with HIV and Coronavirus Disease-19. Clin Inf Dis 2020 Sep 9.
Del Amo J, Polo R, Moreno S, et al. Incidence and Severity of COVID-19 in HIV-Positive Persons Receiving Antiretroviral Therapy – A Cohort Study. Annals Int Med 2020, June 26.
Geretti AM, Stockdale AJ, Kelly SH, et al. Outcomes of COVID-19 related hospitalization among people with HIV in the ISARIC WHO Clinical Characterization Protocol (UK): a prospective observational study. Clin Infect Dis. 2020 Oct 23:ciaa1605.
Hoffmann C, Casado JL, Härter G, et al. Immune Deficiency Is a Risk Factor for Severe COVID-19 in People Living with HIV. HIV Medicine 2020 (manuscript accepted).
Hoffmann C, Wolf E. Older age groups and country-specific case fatality rates of COVID-19 in Europe, USA and Canada. Infection. 2020 Oct 24:1-6.
Jewell B, Mudimu E, Stover J, et al. Potential effects of disruption to HIV programmes in sub-Saharan Africa caused by COVID-19: results from multiple models. Lancet HIV 2020 Sep;7(9):e629-e640.