Quo Vadis IAS?
Vom schweren Weg in eine neue Normalität
VIRTUELL MIT PRÄSENZ
Inzwischen hatten wir uns ja fast schon daran gewöhnt, nicht mehr um den halben Erdball zu jetten, um nach einem mittelmäßigen Konferenzhotelfrühstück in dunklen und eiskalt klimatisierten Hallen dem Erkenntnisgewinn entgegenzudösen (wegen des Jetlags), sondern statt dessen ausgeschlafen und gut gelaunt am heimischen Bildschirm im eigenen Rhythmus den Vorträgen folgen zu können. Doch die IAS versuchte diesmal einen Spagat zwischen virtuellem Kongress und Präsenzveranstaltung. Gar nicht so einfach, weil die Planungen ja Monate vor dem eigentlichen Ereignis stattfanden und niemand wusste, wie sich die Corona-Lage entwickeln würde. Bis zum Schluss war nicht ganz klar, welche Veranstaltungen vor Ort stattfinden können, welche Referenten anreisen können und – nicht zuletzt – wie viele Teilnehmer vor Ort sein würden.
Somit lag der Schwerpunkt nach wie vor auf dem virtuellen Teil des Kongresses. Vier „klassische“ Tracks (die im Programm tatsächlich nur einmal versteckt benannt wurden – danach hießen sie nur noch A, B, C, D), ein ominöser „IAS+“-Track, der sich mir nicht so ganz erschloss, sowie eben der „Berlin Hub“, also der Teil, der zwar als Präsenz-Veranstaltung stattfand, aber natürlich auch ins Netz übertragen wurde.
FALLSTRICK TECHNIK
Ach ja, die Online-Plattform: Man könnte meinen, nach über einem Jahr Pandemie hätte man eine einfach bedienbare und funktionale Software gefunden. Aber weit gefehlt. Jeder Kongressveranstalter glaubt, das Rad neu erfinden zu müssen. Immer neuer Schnickschnack, den niemand braucht, statt einer eingängigen, logischen und anwenderfreundlichen Bedienung. Beispiele gefällig? Eine Chatfunktion, die es unmöglich machte, während einer laufenden Präsentation Fragen zu stellen, Barrieren für Journalisten und andere Nicht-Mediziner, die ein Anschauen von Satellitensymposien verhinderten (angeblich wegen des deutschen Heilmittelwerbegesetzes) – während die (Werbe-)Ausstellung der Pharmafirmen problemlos zugänglich war. Auch ein einfacher Überblick über alle Poster war nicht einfach möglich; man musste immer einem vorgegeben Hierarchiebaum folgen. Hier ist wirklich noch viel Raum für Verbesserungen.
Community bleibt vor der Tür?
Letztendlich sind das aber Kleinigkeiten. Ein viel wichtiger Kritikpunkt für mich ist, dass die IAS seit Jahren ihr Verhältnis zur Community nicht geregelt bekommt. Nachdem es die letztjährige Welt-Aids-Konferenz sogar zerrissen hatte (man hatte sich über den Veranstaltungsort nicht einigen können – deshalb fand eine eigene, konkurrierende Konferenz der Community statt), war es auch dieses Jahr wieder verbreitet, über Menschen zu reden statt mit ihnen. Trauriges Beispiel: Die Session „Is the rise in STI under PrEP acceptable?” vor Ort im Estrel-Hotel in Berlin. Das Thema hatte viele spannende Facetten, aber leider hatte man versäumt einen PrEP-User (oder vielleicht sogar eine User:in?) einzuladen, um auch die Perspektive der Menschen abzubilden, die das am eigenen Leibe mitmachen. Auf der anderen Seite der löbliche Versuch, viele Sessions mit einem „Summary for the Community“ abzuschließen, was je nach Referent:in mal mehr, mal weniger gut (d.h. verständlich) gelang.
LOCAL HUB BERLIN
Fast war man versucht, sich in die „gute, alte Zeit“ zurück zu wünschen, wenn man die leeren Hallen des Estrel-Hotels in Berlin sah. Wo sich eigentlich Menschenmassen tummeln sollten, um den neuesten Forschungsergebnissen hinterherzuhecheln, saßen gerade ein paar Handvoll Menschen in zwei etwas größeren Konferenzräumen, die nicht annähernd gefüllt waren – was vermutlich dem Termin (Montag und Dienstag) sowie den hohen Teilnahmegebühren geschuldet war. Umso aufgepeppter war das Online-Angebot. Mit Eckhardt von Hirschhausen als Conférencier, der gerade versucht, die Gebiete Comedy, Medizin und Umweltaktivismus zu kombinieren (Environmental Comedician?) und in TV-Formaten und Büchern an die Generation 50+ zu bringen. Die beiden Kongress-Präsident:innen waren Adeeba Kamarulzaman und Hendrick Streeck, den man einfach bewundern muss, wie er die Zeit aufbringt, neben klinischer Tätigkeit, Buchautor und Dauergast in Talkshows auch noch zwischen Aufnahmestudios und „Berlin Hub“ hin-und-herzupendeln.
Die einstimmende Begrüßungsrede von Angela Merkel war natürlich vorher aufgezeichnet und so wunderte sich manche:r, dass sie kein Wort zur Flutkatastrophe verlor. Da fiel auch kaum auf, dass ihr Plädoyer, das medizinischer Fortschritt allen Menschen weltweit zu Gute kommen müsse, wenig glaubwürdig klang vor dem Hintergrund der deutschen Weigerung, Pharmapatente (z.B. für Corona-Impfstoffe) zumindest zeitweise aufzuheben.
Inhaltlich war auch die Konferenz deutlich „Corona-infiziert“. Das ist aber gar nicht negativ gemeint. Zum einen gibt es spannende Parallelen (aber auch Unterschiede) zwischen beiden Viren bzw. Infektionen. Zum anderen ist aber immer noch viel zu wenig bekannt, inwieweit Menschen mit HIV von Corona und seinen Folgen stärker betroffen sind und ob es bei den Impfungen Unterschiede zu Menschen ohne HIV gibt. Hier war erkennbar, dass zwar beide Forschungsgebiete um Ressourcen (und Forscher:innen) konkurieren, dass sie sich aber eben auch gegenseitig befruchten und voneinander lernen.
WEGE DER ZUKUNFT
Drei große Schwerpunkte für die Zukunft waren für mich erkennbar:
- „Long-acting“ Therapien werden in den nächsten Jahren die Therapielandschaft und die PrEP bereichern. Allerdings sind damit auch neue Herausforderungen für Anwender:innen und Ärzt:innen verbunden.
- Gentherapeutische Verfahren finden langsam ihren Weg von der Forschung in die praktische Anwendung. Viele waren überrascht, dass inzwischen schon zehn gentherapeutische Medikament zugelassen sind. Weitere Studien laufen. Hier hat man den Eindruck, dass gerade die mRNA-Impfstoffe für eine breitere Akzeptanz in der Bevölkerung gesorgt haben und damit den Einsatz entsprechender Therapieformen beschleunigt haben könnten.
- Bei der Entwicklung neuer Therapien wird heute von Anfang an mitgedacht, wie man diese weltweit zum Einsatz bringen kann, also eben auch in ressourcenarmen Ländern. Hier hat sich die Erkenntnis aus der Corona-Krise durchgesetzt, dass man globale Probleme mit globalen Strategien angehen muss.
Für die IAS gibt es viel zu tun: Herausforderungen durch neue Erkrankungen, neue Therapiestrategien („long acting“) und das immer noch nicht eingelöste Versprechen der Heilung, aber auch der Umgang mit virtuellen Konferenzen (die uns sicher auch in Zukunft erhalten bleiben), mit der Community und mit der Tatsache, dass sowohl HIV als auch Corona globale Bewältigungsstrategien erfordern. Die nächste Chance dafür bietet sich 2022 in Montreal, Kanada.