Ibalizumab (trogarzo®)
In Europa nicht mehr erhältlich

Das Unternehmen Theratechnologies hat in einer internationalen Pressemitteilung angekündigt, Ibalizumab
(Trogarzo®) das Produkt in Zukunft nur noch in Nordamerika zu vertreiben.

Ibalizumab (Trogarzo®)
© Foto: Theratechnologies


Die Rechte am Verkauf in Europa wurden an das taiwanesische Unternehmen TaiMed Biologics Inc. zurückgegeben, das derzeit die Optionen für Europa prüft. Als Grund für den Rückzug aus Europa nannte Theratechnologies „für das Unternehmen die nicht zufrieden stellende Preisgestaltung und Erstattung europäischen Schlüsselländern“.

Trogarzo® wurde in der EU im September 2019 zugelassen zur Behandlung von Menschen mit multi-resistentem HI-Virus, für die kein anderes supprimierndes Regime zusammengestellt werden kann. In Deutschland erhielt Trogarzo® in der Bewertung des IQWIGs „keinen Zusatznutzen“ und das Unternehmen zog sich aus dem europäischen Markt zurück.


Kommentar PD Dr. med. Ulrich Seybold, München
Von „Neue Substanz“ 2020 zu Auslaufmodell 2022?

PD Dr. med. Ulrich Seybold München © priv.
PD Dr. med. Ulrich Seybold München
© priv

Erst im September 2020 erfolgte die Markteinführung des Antikörpers und „CD4-gerichteten Post-Attachment-Inhibitors“ Ibalizumab, der bereits 2019 von der EMA in Kombination mit anderen antiretroviralen Substanzen für die Behandlung von Erwachsenen zugelassen wurde, bei denen eine multiresistente HIV-1-Infektion vorliegt und für die es sonst unmöglich ist, ein suppressives antivirales Regime zusammenzustellen.1 Dieser Personenkreis wurde in Deutschland auf maximal 100 geschätzt.2

Die Zulassungsstudie erfolgte an einer mit N=40 noch einmal deutlich kleineren Gruppe, der primäre Endpunkt
war die Veränderung der Plasma-Viruslast 1 Woche nach iv-Infusion von 2.000 mg Ibalizumab zusätzlich zu einer versagenden antiretroviralen Therapie.3 Große randomisierte Studien mit „harten“ Endpunkten sind wenig überraschend nicht verfügbar, so dass (ebenso wenig überraschend?) der GBA im Rahmen des AMNOG-Prozesses keinen Zusatznutzen erkennen wollte.4 Der Apothekenverkaufspreis (AVK) für die 2-wöchentliche Erhaltungsdosis wurde so von initial etwas über € 5.000,- auf € 1.087,96 gesenkt. Eine informelle Rückfrage beim Hersteller Ende 2021 bestätigte außerdem den Eindruck, dass in Deutschland wohl nur eine einstellige Anzahl von Menschen mit Ibalizumab behandelt werden.

Und so kam es, wie es kommen musste. Im Februar 2022 erreichte mich als Ibalizumab-Verschreiber die Nachricht, dass „der Vertrieb von Togarzo® in Deutschland […] eingestellt wurde“. Immerhin sollte „die Zulassung von Togarzo® durch die EMA [...] völlig unberührt und die Substanz […] weiterhin in Europa [...] zugelassen“
bleiben. Mit der im April erfolgten Mitteilung des Rückzugs vom gesamten europäischen Markt wird es mit der Versorgung meines Patienten jetzt allerdings kompliziert. Und Ibalizumab wird als (wie für unseren Patienten
lebensrettende) cART-Komponente für neue PatientInnen kaum mehr in Frage kommen.

Wie konnte das passieren?

Wer ist „schuld“? Etwa der GBA? Da im Rahmen des AMNOG-Prozesses der Zusatznutzen ja gegenüber der „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ bestimmt wird, lohnt sich ein Blick auf deren Definition im Fall von Ibalizumab5: „Eine patientenindividuelle antiretrovirale Therapie unter Auswahl der zugelassenen Wirkstoffe; unter Berücksichtigung der Vortherapie(n) und des Grundes für den Therapiewechsel, insbesondere Therapieversagen aufgrund eines virologischen Versagens und etwaig einhergehender Resistenzbildung oder aufgrund von Nebenwirkungen.“

Das klingt einerseits kompliziert und individuell genug. Spannend ist aber natürlich die Tatsache, dass Ibalizumab gar nicht zulassungskonform eingesetzt werden könnte, wenn es eine „zweckmäßige Vergleichstherapie“ gäbe. Die einzige Alternative gem. der Zulassung ist das Therapieversagen. Ergibt sich da durch die virologische Kontrolle (und das nicht-Sterben...) nicht möglicherweise doch ein individueller Zusatznutzen?

Oder ist „Big Pharma“ einfach zu geldgierig? Zwar ist Theratechnologies Inc. mit seinen 140 MitarbeiterInnen gar nicht so „Big“, dennoch liegen die post-AMNOG Therapiekosten von >€ 2.000,- im Monat für eine cART-Komponente deutlich über dem, was wir sonst so verschreiben. Allerdings ist Produktion und Vertrieb eines Antikörpers wohl auch aufwändiger als von Tabletten.

Oder war die Firma etwa naiv (bzw. megaloman) und hat die Möglichkeit der Befreiung von der Beweispflicht des Zusatznutzens aufgrund Geringfügigkeit der (absoluten jährlichen Gesamt-)Ausgaben für die gesetzlichen Krankenkassen gem. §35a Abs. 1a SGB V in Überschätzung des Bedarfs in Deutschland ignoriert?

Wie geht es weiter?

Wie geht es nach Vertriebsstopp eines alternativlosen Präparats weiter? Die Recherche (Stand 03.05.2022) der Apotheke unseres Patienten bringt Licht ins Dunkel:

Noch bis zum 20.05.2022 wird ein persönlicher Ansprechpartner (Medical Science Liaison) des Herstellers in Deutschland verfügbar sein, danach müssen fachliche Anfragen an die kanadische Service-Hotline gerichtet werden.

Trogarzo® ist als „außer Vertrieb“ gekennzeichnet, aber bis zum Abverkauf der Lagerbestände zugelassen und abgabefähig. Das bedeutet, dass die Kosten bei Lieferung über das von Theratechnologies Inc. beauftragte Logistikunternehmen für die 800 mg-Erhaltungsdosis derzeit immer noch bei AVK € 1.087,96 (+ ca. € 29,- für die Beschaffung) liegen. Der bisherige Lieferant hatte offenbar noch keine Information zur Nichtverfügbarkeit und kann auch noch liefern. Den tatsächlichen Lagerbestand teilte er aber nicht mit, so dass eine Apotheke die Verfügbarkeit nur im konkreten Bestellvorgang erfährt.

Nach Abverkauf der Lagerbestände kann Ibalizumab als Einzelimport gem. §73 Abs. 3 AMG bezogen werden (Sonder-PZN 09999117). Für Versicherte bei Primärkassen ist hierfür eine Genehmigung empfehlenswert, bei Ersatzkassen sogar notwendig. Für PKV-Versicherte lohnt definitiv ein Blick in die Tiefen des Kleingedruckten im Vertrag. Die Anfrage bei möglichen Importeuren ergab erwartete Kosten zwischen € 11.700 und € 12.600 für die Erhaltungsdosis (und damit eine Steigerung um >Faktor 10!). Zu beachten ist außerdem die Lieferzeit von 2-4 Wochen und die Unmöglichkeit der Rückgabe von bestellten Dosen.

Die (ja erfreulich!) geringe Zahl der Ibalizumab-PatientInnen ist also einerseits der Grund für das Fehlen von Studiendaten, die für die Feststellung eines Zusatznutzens notwendig wären. Andererseits macht sie zusammen mit dem dadurch niedrigeren AMNOG-Preisniveau den europäischen Vertrieb unrentabel. In der schönen neuen Ordnung des Arzneimittelmarkts ist für Ibalizumab schlicht kein Platz. Ziele des AMNOG waren die Eindämmung der „rasant steigenden Arzneimittelausgaben“ und „eine stärkere Orientierung am Wohl der Patienten“.6 Im Fall des
Verfahrens von Ibalizumab: Doppel-Fail?

1 European Medicines Agency. Torigarzo - EPAR, Product Information. Update vom 29. November 2021; verfügbar unter https://www.ema.europa.eu/en/documents/product-information/trogarzo-epar-product-information_en.pdf , zuletzt abgerufen am 08. Mai 2022

2 Hoffmann C. Zwei neue Optionen bei „HTE“-Patienten. HIV&more 2021;2:18-19.

3 Emu B, Fessel J, Schrader S, et al. Phase 3 Study of Ibalizumab for Multidrug-Resistant HIV-1. N Engl J Med 2018;379:645-654. DOI 10.1056/NEJMoa1711460

4 Gemeinsamer Bundesausschuss. Nutzenbewertung nach § 35a SGB V: Nutzenbewertungsverfahren zum Wirkstoff Ibalizumab (Multiresistente HIV-Infektion). Beschlussfassung: 18. Februar 2021; verfügbar unter https://www.g-ba.de/bewertungsverfahren/nutzenbewertung/589/ , zuletzt abgerufen am 08. Mai 2022

5 Gemeinsamer Bundesausschuss. Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage XII – Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V - Ibalizumab (Multiresistente HIV-Infektion). 18. Februar 2022; verfügbar unter https://www.g-ba.de/downloads/40-268-7325/2021-02-18_AM-RL-XII_Ibalizumab_D-580_TrG.pdf , zuletzt abgerufen am 08. Mai 2022

6 Bundesministerium für Gesundheit. Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG). Stand 10. August 2016; verfügbar unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/a/arzneimittelmarktneuordnungsgesetz-amnog.html , zuletzt abgerufen am 08. Mai 2022


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