„Wir werden auf die Folgen von Substanzkonsum nicht vorbereitet“

Deutsche AIDS-Hilfe logoDie Initiative „Junge Suchtmedizin“ setzt sich für eine bessere Ausbildung im Medizinstudium ein, klärt selbst
auf und will Nachwuchs gewinnen – insbesondere für die Substitution. Dabei wird klar: Suchtmedizin beginnt mit gesellschaftlichen und politischen Fragen.

Babette Müllerschön studiert Medizin, Deborah Scholz-Hehn ist bereits Ärztin. Mit der Initiative „Junge Suchtmedizin“ in der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) setzen sie sich seit 2020 dafür ein, ihre Fachrichtung zu entstigmatisieren und zukunftsfähig zu machen.

Substitution in Berlin (Dr. H. Schulbin, Praxis Kreuzberg)
Substitution in Berlin (Dr. H. Schulbin, Praxis Kreuzberg)© DAH/Johannes Berg

Warum genau gibt es die Initiative?

DSH: Der Wunsch war, sich mit Leuten zu vernetzen, die die Versorgung besser machen möchten. Die Suchtmedizin muss in Deutschland besser repräsentiert werden – vor allem unter jungen Menschen, die in Heilberufen arbeiten wollen.

BM: Die Suchtmedizin ist stigmatisiert und deshalb unterrepräsentiert. Dabei wäre es so wichtig, mehr darüber zu sprechen, damit Betroffenen geholfen werden kann.

Warum „junge“ Suchtmedizin? Was ist der Unterschied zur „alten“?

DSH: Viele der alteingesessenen Suchtmediziner*innen haben jahrzehntelang dafür gekämpft, dass die Suchtmedizin so funktioniert, wie sie heute funktioniert. Wir möchten in die Zukunft blicken und die nächsten Hürden nehmen. Es herrscht ein großer Mangel an jungen Fachkräften. Unsere Zielgruppe ist jung, wir haben aber keine Altersgrenze.

E-Learning-Modul zu Chemsex

Im Rahmen des EU-Projektes „Learn Addiction“ entsteht ab sofort ein neues E-Learning-Modul zum Thema Chemsex für Fachkräfte aus dem Suchtbereich. Beteiligt sind sechs Organisationen aus sechs Ländern, darunter die Deutsche Aidshilfe.

Das Tool wird nach einer Entwicklungs- und Erprobungsphase im Dezember 2023 kostenlos in sieben Sprachen veröffentlicht. Es kann dann frei verwendet, verändert und weiter ausgebaut werden. „Learn Addiction“ betreibt bereits eine E-Learning-Plattform mit Modulen zu den Themen Verhaltenssüchte, Süchte bei jungen Menschen, Genderspezifische Aspekte von Sucht sowie zu den europäischen Qualitätsstandards für die Drogenprävention. Bei einer europäischen Umfrage unter Fachleuten haben sich 48% eine Schulung zu Chemsex gewünscht.

www.learnaddiction.eu
Twitter: @AddictionLearn
Facebook: @LearnAddictionProject
Kontakt bei der DAH: urs.gamsavar@dah.aidshilfe.de

Queere Nothilfe Ukraine

Queere UkraineQueere Menschen sind in der Ukraine zurzeit in besonderen Notlagen. Mehr als 50 Organisationen aus der LSBTIQ*-Community in Deutschland, darunter die Deutsche Aidshilfe, haben sich daher im Bündnis Queere Nothilfe Ukraine zusammengeschlossen. Es hilft Bedürftigen finanziell und materiell, unterstützt queere Menschen bei der Flucht, etwa in speziellen Notunterkünften, und setzt sich für eine diskriminierungsfreie Unterbringung und Versorgung in Deutschland ein. Neben Gütern des alltäglichen Bedarfs gehören auch Medikamente zu den Hilfslieferungen. Es werden weiterhin dringend Spenden benötigt.

www.queere-nothilfe-ukraine.de
presse@dah.aidshilfe.de

Wo fehlt Nachwuchs?

BM:Vor allem in der in der Substitutionstherapie für Opioidabhängige. Die kann im Moment nicht ausreichend angeboten werden.

DSH: Die Zahl Unbehandelter steigt, wenn Behandelnde in Rente gehen und kein Nachfolger antritt.

8.000 Suchtmediziner*innen in Deutschland könnten Substitution anbieten, aber 5.600 tun es nicht. Warum?

BM: Viele fühlen sich nicht qualifiziert genug. Es gibt rechtliche und strukturelle Barrieren. Die Unsicherheiten sind teils noch groß, obwohl die rechtliche Lage in den letzten Jahren wesentlich besser geworden ist. Behandelnde haben Sorge, etwas falsch zu machen.

DSH: Hinzu kommt: Schlechte Erfahrungen werden weitergetragen. Dadurch kann der Eindruck entstehen, Substitution sei furchtbar kompliziert, man stehe „immer mit einem Bein im Gefängnis“. Verbesserungen sickern hingegen bei Berufsanfänger*innen langsamer durch.

Take-Home-Vergaben wurden zum Beispiel erheblich ausgeweitet. Wie war das Feedback dazu?

BM:Gerade Ärzt*innen mit restriktiven Behandlungsmethoden sahen das eher skeptisch und waren vorsichtig. Diese haben dann vielleicht nur Hochrisikopatient*innen, die vor Covid geschützt werden mussten, etwas mit nach Hause gegeben. Behandelnde, die vorher schon auf Vertrauen und Kommunikation gesetzt haben, haben die neuen Möglichkeiten sehr dankbar angenommen. Es gab viele positive Erfahrungen. Und keine Probleme, die nicht zu lösen waren, sagen viele Ärzt*innen.

Was kann man in der Substitutionsbehandlung denn eigentlich falsch machen? Wovor haben die Leute Angst?

DSH: Es gibt viele rechtliche Aspekte. Dann natürlich die Sorge bezüglich Überdosierungen. Behandelnde tragen viel Verantwortung, auch bei der Verwahrung von Betäubungsmitteln.

BM: Ein ganz konkretes Beispiel: Wenn die Substitute nach Hause mitgegeben werden, haben viele Behandelnde Sorge, dass Menschen zu viel einnehmen oder durch den Konsum anderer Mittel gefährdet sind. Sie haben Angst, dass diese Fehler ihnen angelastet werden.

Was sind sonst noch eure Anliegen?

DSH: Wir möchten beim Netzwerken helfen und bauen ein Verzeichnis von Substitutionspraxen in Deutschland auf. Wir wären gerne Ansprechpartner*innen, wenn Studierende oder Examinierte sich in der Suchtmedizin umschauen möchten. Außerdem bieten wir digitale Roadshows an, über die wir Wissen vermitteln und hoffentlich auch Stigmata abbauen. Dabei kommen immer Fachkräfte und Betroffene zu Wort.

Welche Defizite gibt es denn sonst noch in der Suchtmedizin?

DSH: Es ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Schon in der Prävention gibt es große Lücken. Im Kindes- und Jugendalter muss bereits aufgeklärt werden, welche Substanzen es gibt, was Zeichen eines problematischen Konsums sind, an wen man sich wenden kann. Die restriktive Drogenpolitik spielt verhindert vieles. Wenn man pauschal alle Drogen verteufelt, kommt es zu keiner differenzierten Auseinandersetzung mit Risiken.

Was wäre ein Modell, das funktionieren würde?

DSH: Entkriminalisierung wäre hilfreich, um Klient*innen aus der Beschaffungskriminalität zu holen und Stigmatisierung vorzubeugen. Zurzeit geraten Menschen oft in eine Abwärtsspirale. Betroffene holen sich oft keine Hilfe, auch weil ihr Konsum strafrechtlich relevant werden kann.

Und in der Medizin?

BM: Im Studium und in Ausbildungen wird wenig über Abhängigkeitserkrankungen gelehrt. Dadurch sind wir schlecht vorbereitet. Gerade im stressigen Krankenhausalltag schlägt diese Unsicherheit in Abneigung gegenüber den Patient*innen um. Sucht wurde lange Zeit nicht als chronische Erkrankung gesehen, sondern als Charakterschwäche abgetan. Es wird suggeriert, Süchtige seien selbst schuld, wenn sie sich nicht kontrollieren könnten. Deswegen haben sie kaum Platz in konventionellen Lehrplänen bekommen.

DSH: Wir werden weder auf Substanzkonsum noch auf die Folgen vorbereitet. Suchterkrankungen betreffen eigentlich jeden medizinischen und therapeutischen Fachbereich. Es gibt eine ganz erstaunliche Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Bedeutung von Konsum und der Vernachlässigung innerhalb der Heilberufe.

Vor welche Herausforderungen stellen Chemsex-User*innen die Suchtmedizin?

DSH: Ich glaube, dass der schmale Grat zwischen Spaß beim Sex und problematischem Konsum sehr schwierig ist. Als Behandelnde steht man vor der Herausforderung, den richtigen Mittelweg bei der Beratung von Klient*innen zu finden.

BM: Das Ganze findet in einem sehr privaten Rahmen statt. Schon wenn es nicht substanzbezogen ist, tun sich Ärzt*innen schwer, das Thema Sex mit ihren Patient*innen zu besprechen, selbst wenn es zum Beispiel um Nebenwirkungen von Medikamenten geht.

Welche Dinge müssen sich in der Suchtmedizin konkret ändern?

DSH: Wir brauchen mehr ausgebildete Suchtmediziner*innen, Psychotherapeut*innen, Krankenpfleger*innen und Sozialwissenschaftler*innen.

BM: Zusätzlich benötigen wir mehr niedrigschwellige Angebote zur Prävention und Konsumberatung. Es braucht Gesprächsangebote – nicht erst, wenn eine akute Suchterkrankung vorliegt.

DSH: Drogenpolitisch braucht es Menschen, die sich mit dem Thema fachlich und menschlich wirklich auskennen und die entsprechenden Posten bekleiden. Man sollte die Menschen nicht in die Illegalität treiben, das macht es nur gefährlicher.

Interview: Sebastian Goddemeier

www.jungesuchtmedizin.de





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