22. Fachtagung Hiv und Schwangerschaft
ART in der Schwangerschaft: Diskrepanz
Der Tagungsort war wie in den Vorjahren das Parkhotel Waldlust in Oberursel. Auf dem Programm standen insgesamt 15 wissenschaftliche Beiträge, darunter mehrere Präsentationen internationaler Referent*innen und erfreulicherweise auch wieder zahlreiche Forschungsprojekte junger Wissenschaftler*innen.
Ein Schwerpunkt der Tagung in Oberursel war die HIV-Therapie von Schwangeren bzw. Frauen mit Kinderwunsch. PD Dr. Carolynne Schwarze-Zander stellte in einem Übersichtsvortrag die Deutsch-Österreichische Leitlinie internationalen Empfehlungen gegenüber. Dabei ergaben sich teilweise unterschiedliche Empfehlungen zur ART. Ein Grund dafür sind oft fehlende Daten zu Sicherheit und Effektivität antiretroviraler Substanzen in der Schwangerschaft. Dies verzögert ihre Aufnahme in die Leitlinienempfehlungen erheblich. Eine Frankfurter Studie, die Constantin von Schöppenthau in Oberursel vorstellte, hat gezeigt, dass der Einsatz neu zugelassener HIV-Medikamente im klinischen Alltag allerdings deutlich schneller umgesetzt wird. Es lagen 6-12 Jahre zwischen dem ersten klinischen Einsatz und der entsprechenden positiven Empfehlung in der Deutsch-Österreichischen Leitlinie. Von Schöppenthau konnte über den Verlauf der letzten zwanzig Jahre auch die Entwicklungen beim Einsatz der unterschiedlichen Substanzklassen abbilden, die zuletzt einen deutlichen Anstieg bei den Integraseinhibitoren gezeigt haben.
Auch im Deutschen HIV-Schwangerschaftsregister lassen sich über die letzten zehn Jahre vergleichbare Entwicklungen bei den antiretroviralen Therapien darstellen.
Trotz der steigenden Zahl von Therapieoptionen bei Schwangeren, gibt es immer wieder besondere Herausforderungen in dieser Patientinnengruppe. Den Fall einer Dreiklassenresistenz bei einer schwangeren Patientin, die seit dem Kindesalter mit HIV lebt und rezidivierende Adhärenzprobleme hat, stellte Dr. Trawinski aus Leipzig in Oberursel zur Diskussion.
Nicht
nur bei Schwangeren, auch bei Kindern und Jugendlichen mit HIV gibt
es eine Diskrepanz zwischen der Zulassung eines HIV-Medikaments,
seinem klinischen Einsatz und seiner Empfehlung in den Leitlinien.
Dr. Marla Braun und PD Dr. Dr. Christoph Königs stellten dazu
Daten aus der GEPIC-Studie (German Pediatric and Adolescent HIV
Cohort)
vor. Trotz der im Vergleich zu den Erwachsenen limitierten
Therapiemöglichkeiten, liegt die Viruslast bei rund 86% der Kinder
und 92% der Adoleszenten, die in Deutschland mit HIV leben, unter der
Nachweisgrenze von 50 Kopien. Damit liegt das virologische Ansprechen
deutlich über dem Durchschnitt auf europäischer Ebene
(EPPICC-Studie).
Ein fester Bestandteil der Tagung HIV und Schwangerschaft sind Übersichtsvorträge zur aktuellen HIV-Therapie und -Prävention sowie zum Stand der vertikalen HIV-Transmissionen in Deutschland. Prof. Dr. Stefan Esser, Vorsitzender der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) hielt den ART-Vortrag und Dr. Ulrich Marcus vom Robert Koch-Institut (RKI) stellte die aktuellen Daten zu vertikalen HIV-Transmissionen vor. Für das Jahr 2020 wurden fünf und für das Jahr 2021 drei vertikale HIV-Transmissionen beim RKI gemeldet, wobei hier Nachmeldungen möglich sind. Es ist in Deutschland bislang also noch nicht gelungen, die vertikale HIV-Transmission vollständig zu eliminieren.
HIV und Stillen
PD Dr. Karoline Aebi-Popp und Dr. Christian Kahlert
Ein weiterer Fokus der Tagung lag auf dem Thema Stillen und HIV. PD Dr. Karoline Aebi-Popp und Dr. Christian Kahlert stellten eine Auswertung der Schweizer Daten aus den Jahren 2019 und 2020 vor. In diesem Zeitraum hatte sich rund die Hälfte aller HIV-positiven Schwangeren in der Schweiz für das Stillen entschieden. Ein wichtiger Grund für die Entscheidung der Schwangeren war die Förderung einer engen Mutter-Kind-Bindung durch das Stillen. Alle Frauen hatten zum Zeitpunkt der Geburt eine vollständig supprimierte Viruslast und einen guten Immunstatus. Die Mehrzahl der Mütter (75%) hat ihre Kinder mindestens drei Monate lang gestillt. Keines der Kinder erhielt, wie in der Schweiz bei vollständig supprimierter maternaler Viruslast empfohlen, eine Neo-PEP. Es kam zu keiner HIV-Transmission durch das Stillen.
Die Studie HELENE hat deutschlandweit retrospektiv Stillfälle HIV-positiver Mütter aufgearbeitet. Von Mai 2009 bis Juli 2020 hatten mindestens 42 Frauen gestillt und dies auch ihren HIV-Schwerpunktärzt*innen mitgeteilt. Im Median hatten die Mütter 20 Wochen gestillt (1 Tag-104 Wochen). Im Verlauf des Beobachtungszeitraums war dabei eine Zunahme der Stillfälle zu verzeichnen.
Die SISTER-Studie untersucht die Stillerfahrungen von Müttern, die in Deutschland mit HIV leben. Lila Haberl stellte in Oberursel dazu eine Zwischenauswertung von 38 Fragebögen vor. Die Frauen bewerteten ihre Stillerfahrungen fast ausnahmslos positiv und würden beim nächsten Kind wieder stillen bzw. auch anderen Frauen, die mit HIV leben, das Stillen empfehlen. Die Mütter beklagten allerdings die teilweise fehlende interdisziplinäre Kommunikation der Stillentscheidung und fühlten sich durch überflüssige Nachfragen und unangemessene Kommentare diskriminiert.– An der SISTER-Studie können sich aktuell noch Frauen mit Stillerfahrung beteiligen.
Die Nachfolgestudie von HELENE ist die IRENE-Studie, in die bereits Patientinnen eingeschlossen werden können. IRENE erfasst prospektiv die Stillfälle HIV-positiver Frauen in Deutschland. Zentren, die stillende Frauen betreuen, sind eingeladen, sich an der Studie zu beteiligen. Die Doktorandin Kristin Annawald, betreut die Studie in Frankfurt und steht als Ansprechpartnerin zur Verfügung.
Ganz andere Erfahrungen mit dem Thema Stillen schilderte Dr. Karen Olshtain aus Jerusalem. In Israel wird Müttern, die mit HIV leben, immer noch strikt vom Stillen abgeraten und so gibt es aus Israel bislang nur einen einzigen Stillfall zu berichten. Um die Empfehlungen zu ändern, bedürfe es laut Olshtain dringend mehr Daten zum Stillen mit HIV, vor allem aus sogenannten „ressource rich countries“.
HIV-Test und Diskriminierung bleiben Themen
Interessanterweise wird in Israel nicht jeder Schwangeren ein HIV-Test angeboten. Ob die HIV-Testung im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge in Deutschland allen Frauen angeboten und mit deren Einverständnis dann durchgeführt wird, war bei der Tagung HIV und Schwangerschaft bereits mehrfach Anlass zur Diskussion. In diesem Jahr stellte Laila Cravat dazu eine Bonner Studie vor. Sie hat in der dortigen Universitätsfrauenklinik von Juni bis Oktober 2020 die Mutterpässe auf vollständige Dokumentation überprüft und parallel eine anonyme Befragung bei Schwangeren bzw. Wöchnerinnen durchgeführt. Bei den 401 untersuchten Mutterpässen bestand in 11% der Fälle Unklarheit über die Durchführung des HIV-Tests. An der Befragung beteiligten sich 291 Frauen. Die Mehrzahl von ihnen konnte sich nicht an eine Beratung zum HIV-Test erinnern und befürwortete im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge eine generelle Testung auf HIV.
Ilja Petkovic, der in seiner Masterarbeit HIV-bedingte Diskriminierung in der pflegerischen Versorgung im stationären Setting untersucht hat, stellte die Ergebnisse seiner Arbeit vor und präsentierte dabei auch Audiosequenzen, in denen Patient*innen eindrücklich ihre Erfahrungen schilderten. Zum Abbau HIV-bedingter Diskriminierung im Gesundheitswesen sei eine Förderung der Wissensvermittlung zu HIV und AIDS für Pflegepersonal durch Fort- und Weiterbildung notwendig. Auch die Etablierung und Umsetzung von datenschutzkonformen Vorgaben zur Kommunikation über die HIV-Diagnose sei erforderlich sowie die klinikinterne Aufarbeitung von Vorfällen HIV-bezogener Diskriminierung.
Dr. Marta Vasylyev© Fotos: Annette Haberl
Situation in der Ukraine
Ein bewegender Höhepunkt der Tagung war der Vortrag von Dr. Marta Vasylyev. Die Ärztin aus Lviv, die seit Beginn des russischen Angriffskrieges mit ihrer Familie in den Niederlanden lebt, gab nicht nur einen Überblick über die Prävention der vertikalen HIV-Transmission in der Ukraine, sondern berichtete auch eindrücklich von den bisherigen Auswirkungen des Krieges auf die Versorgung von ukrainischen Menschen mit HIV. Dabei bedankte sie sich für die Solidarität und Unterstützung aus Deutschland, die bei den Menschen vor Ort ankäme und dort auch dringend benötigt würde.
Die nächste Tagung HIV und Schwangerschaft findet am 2./3. Juni 2023 in Oberursel statt.
Die Veranstaltung HIV und Schwangerschaft 2022 wurde unterstützt von den Firmen Gilead, MSD, Janssen und ViiV Healthcare