Rückblick auf HIV in Deutschland
Am 8. April 2023 ist Frau Prof. Eilke B. Helm im Alter von 87 Jahren in Frankfurt am Main verstorben. Sie war eine HIV-Behandlerin der ersten Stunde. Sie hat 1982 als Oberärztin an der Universität Frankfurt die ersten Menschen mit HIV in Deutschland gesehen und behandelt und sich darüber hinaus im Kampf gegen Stigmatisierung und Diskriminierung engagiert. In HIV&more Ausgabe 3/2006 „25 Jahre Aids“ sprach Prof. Helm über die Anfangsjahre der HIV-Pandemie, über die damalige Situation und ihre persönlichen Erfahrungen. Ein Rückblick, der sich lohnt – insbesondere für all jene, die diese Jahre nicht miterlebt haben.
Frau Prof. Helm mit S. Staszewski
Frau Prof. Helm, Sie haben in Deutschland die ersten AIDS-Patienten gesehen. Wann war das?
Helm: Erstmals von AIDS gehört habe ich 1981, als wir in unserer Teambesprechung die Beschreibung einer neuen Erkrankung bei homosexuellen Männern diskutierten. Damals sagte Prof. Stille „Das kriegen wir auch“ – und er hat Recht behalten.
Ende Juni 1982 nahmen wir den ersten AIDS-Patienten auf. Es war ein Ende 30jähriger Mann mit schwerster fieberhafter Erkrankung und großen Lymphknoten im Bauch. Bei der diagnostischen Laparoskopie und Histologie fand sich nicht das übliche Granulationsgewebe, sondern nur Eiter. Alle Kollegen im Haus sagten: „Das haben wir noch nie gesehen“. Da war mir klar, dass es sich um AIDS handelte und ich habe den Fall am 7.7.1982 als AIDS in der Klinikkonferenz vorgestellt.
Bereits Ende des Jahres hatten Sie dann die ersten Fälle publiziert.
Helm:Ja, das ist richtig. Im gleichen Jahr 1982 hatten wir zwei weitere Patienten und ich habe mich mit der Publikation sehr beeilt, denn ich wusste, dass auch andere an einer Publikation arbeiten. Dabei ging es mir aber nicht um meinen persönlichen Ruhm, es ging um Forschungsmittel. Die Infektiologie war nur ein kleines Randgebiet der Inneren Medizin und die Gelder waren immer knapp. So eine Prestigeträchtige Publikation war eine gute Möglichkeit, Forschungsgelder zu mobilisieren.
Wie war die Stimmung damals zu Beginn der Epidemie? Hatten Sie Angst beim Umgang mit den Patienten?
Helm:Die ersten drei Patienten waren Ende 30 Jahre alt und schwul. Einer davon starb gleich. Wir wussten, dass AIDS eine ernste Erkrankung war, davon war ja auch in dem Bericht aus Amerika bereits die Rede. Dennoch war die Atmosphäre nicht aufgeregt. Das Tagesgeschäft nahm uns völlig in Anspruch und die neue Krankheit hat viel Mehrarbeit mit sich gebracht.
Angst hatte ich gar keine. Ich habe als Anfängerin Marburg-Virus-Patienten betreut. Das war wirklich gefährlich. Sich mit Marburg-Virus zu infizieren, bedeutete innerhalb kurzer Zeit zu sterben. HIV hat mich deshalb viel weniger beeindruckt. Ich habe mich bei der Arbeit mit den ersten Patienten sogar mehrere Male gestochen – was aber ohne Folgen blieb.
Und wie haben sich die Kollegen beim Umgang mit AIDS-Patienten verhalten?
Helm: Da hat sich schnell die Spreu vom Weizen getrennt. Viele wollten schon gar nicht zu uns kommen, andere waren plötzlich verschwunden, wenn man ins Patientenzimmer gehen sollte. Aber das hat uns nicht beschäftigt, denn es gab auch genug Mitarbeiter, die gerne da waren.
Probleme gab es mit den Chirurgen, insbesondere 1986 und 1987. Die Chirurgen wollten oft aus Angst vor Ansteckung nicht operieren. Ich kann mich an einen Patienten mit akuten Abdomen erinnern, da hatte ich größte Schwierigkeiten einen Operateur zu finden.
Haben Chirurgen Eingriffe offen abgelehnt?
Helm:Nein, natürlich nicht. Aber es gab Terminprobleme, unerklärliche Verzögerungen oder der chirurgische Konsiliar kam einfach nicht …
Sie haben auch viel geforscht…
Helm: Wir haben viel geforscht, aber nicht viel Aufhebens drum gemacht. So haben wir von Anfang an kontinuierlich Krankheitsverläufe dokumentiert und Material von Patienten eingefroren. Das ist die Grundlage der Frankfurter Kohorte. Aber der Reihe nach …
1983
kamen sieben weitere Patienten, die nicht so schnell starben. Alle
Patienten habe ich intensiv nach Kontakten befragt, denn man war
damals der Meinung, das epidemiologische Muster wäre wichtig. Ferner
habe ich die Freunde der Patienten untersucht. In der Intensivstation
sind mir die
vergrößerten Lymphknoten des Freundes eines
Patienten aufgefallen. Ich habe diesen Freund sowie auch noch weitere
untersucht und Blut abgenommen. Mit diesem Material haben wir
gemeinsam mit den Virologen Prof. Kurt und Frau Prof.
Rübsamen-Waigmann versucht, einen Test zu entwickeln. Um mehr Leute
untersuchen zu können, habe ich die Homosexuellen in Frankfurt zum
Test aufgerufen …
Wie haben Sie das konkret gemacht, die Schwulen zum Test aufgerufen?
Helm: Ich bin in die Schwulen-Kneipen gegangen. Dort habe ich Vorträge gehalten und zum Test aufgerufen. Das Interesse an diesen Informationsabenden war überwältigend. 1983 war Montaigner der Nachweis von HIV als Ursache der Erkrankung gelungen und alle waren wie elektrisiert. Meine Aufrufe hatten übrigens Erfolg. Im Herbst 1984 hatten wir bereits 450 Menschen untersucht.
Was haben Sie damals untersucht?
Helm:Wir haben die CD4-Zellen bestimmt und semiquantitativ den Pilzbefall im Mund untersucht. Es zeigte sich eine sehr enge Korrelation zwischen CD4-Zellzahl und dem Grad des Pilzbefalles. Diese Untersuchungsergebnisse waren die Grundlage der Frankfurter Stadieneinteilung, die ich 1985 im Wissenschaftsministerium in Bonn vorgestellt habe.
Wann war die Sicherheit von Blutprodukten erstmals ein Thema?
Helm: Die erste Sitzung zu diesem Thema fand schon im Herbst 1983 statt. Ich wurde dabei zur medizinischen Gutachterin bestellt. Ich saß in der ersten Reihe, hinter mir die Gutachter der Firmen und ganz vorne das BGA. Wir wurden unabhängig voneinander befragt. Wie hoch ist das Risiko und wie kann man es minimieren? Den HIV-Test gab es ja noch nicht. Die Firmen und Bluter-Ärzte sahen keine Gefahr nach dem Motto „Das ist so selten“, „Das kriegen doch nur Homo-sexuelle“, „Es ist noch kein Bluter gestorben“. Mein Vorschlag als Surrogat-Parameter HBV-, Lues- und CMV-Antikörper zu untersuchen, wurde von den Virologen Thomson aus Göttingen und Kalden aus Nürnberg unterstützt, von der Gegenseite aber abgelehnt. „Das ist viel zu teuer und unpraktikabel“ hieß es..
Ende der 80er Jahre stand dann der Test zu Verfügung …
Helm: Ja, und es kamen immer mehr Patienten. 1985 dann auch Frauen, Prostituierte aus Hanau und Heidelberg. Dort waren die meisten amerikanischen GIs stationiert. Schließlich kamen auch Bluter und 1986 verstarb die erste Frau, die durch PPSB infiziert worden war. Wir haben den Fall genau verfolgt und konnten sogar die kontaminierte Charge identifizieren. Staszewski hat eine Meldung nach Berlin geschickt, doch es passierte gar nichts. Seit damals habe ich mich dafür eingesetzt, dass alle Menschen, die in einem bestimmten Zeitraum Blutprodukte bekommen haben, aktiv zum Test aufgerufen werden sollten.
Primär waren die Schwulen betroffen und es wurde Druck ausgeübt…
Helm: Da gab es viele Auswüchse, beispielsweise irgendwelche blöden Typen schlugen vor, HIV-Infizierte zu tätowieren. So ein Blödsinn. Es gab aber auch vernünftige Leute, wie Frau Süßmuth, die ich einmal privat getroffen habe. Diese Diskussionen verloren allerdings Gott sei Dank 1987 an Bedeutung als man endlich behandeln konnte.
Welche Rolle hat die Pharmaindustrie gespielt?
Helm: Die Pharmaindustrie habe ich stets als sehr hilfreich empfunden. Wir wurden frühzeitig über neue Substanzen informiert und konnten im Rahmen von Studien auch darauf zurückgreifen. Für Referate wurde man gut bezahlt, doch dieses Geld habe ich, und übrigens auch Herr Brodt, in die Forschungskasse eingezahlt. Die Mitarbeiter der Industrie, auch die sogenannten Pharmareferenten, waren und sind in der Regel besonders interessierte, kompetente und uns Ärzten wohlgesonnene Menschen.