Paradigmenwechsel in Leitlinien
Update Stillen und HIV
Am Ende war es doch wieder einmal die Schweiz, die den Unterschied machte und durch ihre 2018 publizierten Empfehlungen zum Stillen mit HIV international ein Umdenken angestoßen hat. Zumindest wurden in der Folge Empfehlungen zum Stillen auch in zahlreichen anderen HIV-Leitlinien aktualisiert und das Stillthema ist inzwischen auf nationaler und internationaler Ebene ein „hot topic“.
In der Schweiz wird – wie bislang auch in keinem anderen ressourcenreichen Land – Müttern, die mit HIV leben, das Stillen keineswegs empfohlen. Die Schweizer Empfehlungen haben allerdings als erste klar die Bedingungen definiert, unter denen sich im individuellen Fall die Vor- und Nachteile des Stillens in einem Gleichgewicht befinden. In dieser Situation soll dann bei bestehendem Stillwunsch eine partizipative Entscheidungsfindung angestrebt werden. Die wichtigsten Voraussetzungen für das Stillen mit HIV sind eine vollständig supprimierte mütterliche Viruslast – im optimalen Fall während der gesamten Schwangerschaft – und die wertfreie Akzeptanz der Stillentscheidung im gesamten interdisziplinären Team.1 Die Schweizer haben es geschafft, ihre Empfehlungen zum Stillen in kürzester Zeit landesweit erfolgreich umzusetzen. Eine im Februar 2023 dazu publizierte erste Auswertung ergab, dass zwischen Januar 2019 und Februar 2021 von den 41 HIV-positiven Frauen, die in der Schweiz Kinder bekommen haben, sich die Mehrzahl (26/63%) für das Stillen entschieden hat.2
© A. Haberl
Auch die BHIVA Guidelines zu HIV und Schwangerschaft gehen detailliert auf das Stillen ein.3 Bereits 2012 wurde ein Monitoring für stillende Mütter mit supprimierter Viruslast in die UK Leitlinie aufgenommen. Auch damals wurde schon eine monatliche Viruslastkontrolle bei Mutter und Kind empfohlen. Eine Auswertung der Jahre 2012-2020 durch ISSOS, einem Surveillance Service, der in Großbritannien für das NHS Screening und Outcome hinsichtlich infektiöser Erkrankungen bei Schwangeren untersucht, ergab bei insgesamt 9.133 Lebendgeburten HIV-positiver Frauen 151 Stillfälle, was einer Stillquote von 1.8% entsprach. Im Median betrug die Stilldauer sieben Wochen. Es gab einen Fall einer post-natalen HIV-Transmission. Die Mutter hatte das Stillen nicht thematisiert und dementsprechend konnte kein Monitoring während der Stillperiode durchgeführt werden.4
Schweiz Vorbild für US-Leitlinie
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Die in den USA im Januar 2023 verabschiedeten neuen Empfehlungen zum Stillen wurden auf der CROI in Seattle als historischer Durchbruch gefeiert. Judy Levison nahm bei der Vorstellung der neuen Empfehlungen auch Bezug auf die Schweiz und verwies auf den Modellcharakter der dort empfohlenen partizipativen Entscheidungsfindung. Entsprechend soll jetzt auch in den USA bei erfolgreich behandelter mütterlicher HIV-Infektion und Stillwunsch ein Shared-Decision-Making umgesetzt werden.5 Der Leitlinienaktualisierung war eine Auswertung von Stillfällen mit HIV vorausgegangen. Insgesamt 72 Fälle aus den Jahren 2014-2022 konnten für die USA und Kanada zusammengetragen werden. Die im April 2023 publizierte Arbeit zeigt ein ähnliches Bild wie die ISSOS Auswertung oder auch deutsche Stillstudien. Im Median hatten die Frauen in den USA und Kanada 23 Wochen gestillt. Als Hauptgründe für das Stillen wurden die Gesundheit des Kindes, Erwartungen der Community und Bonding angegeben. Das Monitoring während der Stillperiode variierte zwischen den einzelnen Zentren. Eine HIV-Transmission durch das Stillen wurde nicht beschrieben.6
HIV und Stillen in Deutschland
Die 2020 aktualisierte Deutsch-Österreichische Schwangerschaftsleitlinie empfiehlt wie die der Schweiz bei Stillwunsch und supprimierter mütterlicher Viruslast eine partizipative Entscheidungsfindung. Während der Stillperiode sollte die Viruslast der Mutter monatlich, beim Kind im ersten Lebensmonat mehrfach und danach alle zwei Monate kontrolliert werden. Nach dem Abstillen wird beim Kind nach zwei und sechs Wochen noch einmal eine Viruslastbestimmung durchgeführt, um eine HIV-Transmission ausschließen zu können.7
Bereits vor der Aktualisierung der nationalen Leitlinie konnten im Rahmen der HELENE Studie deutschlandweit 42 Stillfälle aus den Jahren 2009 bis 2020 retrospektiv ausgewertet werden. In diesem Zeitraum wurde in der Deutsch-Österreichischen Leitlinie noch ein Stillverzicht empfohlen. Die Stilldauer betrug im Median 20 Wochen und variierte von einmaliger Kolostrumgabe bis hin zu einer Dauer von 104 Wochen. Das Monitoring der mütterlichen Viruslast wurde in unterschiedlichen Intervallen vorgenommen. Alle Frauen hatten zu Stillbeginn eine supprimierte Viruslast. In zwei Fällen kam es während des Stillens zu einem Viruslastanstieg, der beide Male ein sofortiges Abstillen zur Folge hatte.8
Die Stillerfahrungen von Frauen, die in Deutschland mit HIV leben, wurden im Rahmen der SISTER Studie untersucht. Eine Zwischenauswertung von 49 Stillfällen, die auf dem DÖAK in Bonn präsentiert wurde, zeigte als Hauptmotivation für das Stillen Bonding, die besonderen Nährstoffe der Muttermilch sowie die Unterstützung des kindlichen Immunsystems. Die durchschnittliche Stilldauer betrug in der SISTER Studie sechs Monate. Einige Studienteilnehmerinnen gaben an, durch medizinisches Personal negative Reaktionen auf ihre Stillentscheidung erfahren zu haben. Als negativ wurde von den Frauen auch die mangelhafte Kommunikation zwischen den an der Betreuung beteiligten Fachrichtungen empfunden. Die überwiegende Mehrzahl der Frauen (84%) würde sich wieder für das Stillen entscheiden und auch anderen Frauen, die mit HIV leben, empfehlen zu stillen.9
IRENE ist die Folgestudie von HELENE und SISTER. Sie erfasst bundesweit sowohl medizinische Daten zum Stillverlauf als auch die Stillerfahrungen der Frauen.
Registrierung für eine Teilnahme an der IRENE Studie: annette.haberl@hivcenter.de
Share your data!
Erkenntnis aller bislang durchgeführten Studien zum Stillen mit HIV in ressourcenreichen Ländern ist die Notwendigkeit, nicht nur Daten auf nationaler Ebene zu erheben, sondern sie auch international zusammenzuführen, da die Anzahl der Stillfälle in den einzelnen Ländern nur gering ist. Women Against Viruses in Europe (WAVE), eine Arbeitsgruppe der EACS, hat bereits erfolgreich eine Plattform zum internationalen Austausch und zur besseren Vernetzung von wissenschaftlichen Projekten zum Stillen mit HIV eingerichtet. Das nächste WAVE Webinar zum Thema Stillen findet am 27. September 2023 statt. Anmeldungen sind jederzeit auf LinkedIn möglich.
Dem Stillthema widmet sich auch eine Session des WAVE Pre-Conference Workshops beim Europäischen AIDS-Kongress, der vom 18.-21. Oktober 2023 in Warschau stattfindet.
1 Kahlert C et al. Is breastfeeding an equipoise option in effectively treated HIV-infected mothers in a high-income setting? Swiss Med Wkly. 2018 Jul 24;148:w14648. doi: 10.4414/smw.2018.14648. PMID: 30044473.
2 Crisinel PA et al.Successful implementation of new Swiss recommendations on breastfeeding of infants born to women living with HIV. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol. 2023 Apr;283:86-89. doi: 10.1016/j.ejogrb.2023.02.013. Epub 2023 Feb 15. PMID: 36801775.
3 Gilleece DY et al. British HIV Association guidelines for the management of HIV in pregnancy and postpartum 2018. HIV Med. 2019 Mar;20 Suppl 3:s2-s85. doi: 10.1111/hiv.12720. PMID: 30869192.
4 https://www.gov.uk/government/publications/infectious-diseases-in-pregnancy-screening-isoss-hiv-report-2022/isoss-hiv-report-2022
5 https://clinicalinfo.hiv.gov/en/guidelines/perinatal/whats-new
6 Levison J et al. Breastfeeding among people with HIV in North America: a multisite study. Clin Infect Dis. 2023 Apr 20:ciad235. doi: 10.1093/cid/ciad235. Epub ahead of print. PMID: 37078712.
7 www.daignet.de
8 Haberl L et al. Not Recommended, But Done: Breastfeeding with HIV in Germany. AIDS Patient Care STDS. 2021 Feb;35(2):33-38. doi: 10.1089/apc.2020.0223. PMID: 33571048.
9 Haberl L et al. Deutsch-Österreichischer AIDS-Kongress, Bonn 23.-25. März 2023: A wonderful experience,. A difficult decision. – Feedback from breastfeeding mothers living with HIV in Germany (SISTER Study)