Siegfried Schwarze, Berlin
Warum Lenacapavir nicht auf den deutschen Markt kommt
Oder: wieviel darf ein Leben kosten?
Siegfried Schwarze
Berlin
E-Mail: s.schwarze@gmx.net
In Deutschland sind wir gewohnt, dass wir ärztliche Leistungen und Arzneimittel bekommen, wenn wir sie brauchen. Doch langsam ändern sich die Dinge: Derzeit sind etwa 400 Arzneimittel nicht lieferbar!
Lieferbremse
Verantwortlich sind auf den ersten Blick Lieferkettenengpässe. Wenn man genauer nachforscht, stellt sich aber heraus, dass in den letzten Jahren immer verzweifeltere Anstrengungen unternommen wurden, um die ausufernden Gesundheitskosten in den Griff zu bekommen (übrigens: nur knapp 18% der Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung entfielen 2021 auf Arzneimittel!). Dies führte unter anderem dazu, dass die Preise für Medikamente, deren Patent abgelaufen ist (sogenannte „Generika“) immer weiter gesenkt wurden. Inzwischen ist ein Preisniveau erreicht, bei dem viele Hersteller aufgegeben haben. Die verbleibenden Unternehmen kaufen die Wirkstoffe im Ausland ein. Gibt es da Probleme, ist das entsprechende Arzneimittel oft wochenlang nicht lieferbar.
Preisbremse
Abb. 1 Ausgaben für Krankenhausbehandlung, Arzneimittel und Ärztliche Behandlung
Doch auch am anderen Ende der Preisspanne, bei den patentgeschützten rezeptpflichtigen Medikamenten, gibt es Preisbremsen. Nach der Zulassung eines neuen Arzneimittels kann der Hersteller inzwischen nur noch für 6 Monate den Preis selbst festlegen. Danach greift die „Zusatznutzenbewertung“. Dabei muss der Hersteller nachweisen, dass sein Präparat gegenüber einer „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ einen „Zusatznutzen“ aufweist. Kann er diesen Nachweis nicht erbringen, wird der Preis automatisch auf den Preis der „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ abzüglich 10 Prozent abgesenkt. Damit wollte der Gesetzgeber verhindern, dass immer mehr Arzneimittel den Markt überschwemmen, die gegenüber den bereits zugelassenen Medikamenten keinen oder nur einen geringen Zusatznutzen für die Patient:innen boten.
Marktbremse
Im Prinzip ist dieser Ansatz nachvollziehbar und hat in der Vergangenheit auch schon zu deutlichen Einsparungen geführt. Allerdings sieht es so aus, als würden wir jetzt die Grenzen dieses Systems erreichen: Vor kurzem hat ein Hersteller ein HIV-Medikament (Ibalizumab, Trogarzo®) vom Markt genommen, da ihm kein Zusatznutzen bescheinigt wurde und der zu erzielende Preis angeblich unter dem lag, was dieses Medikament (ein monoklonaler Antikörper) in der Herstellung kostet. Dieses Medikament durfte nur eingesetzt werden, wenn es keine andere Behandlungsmöglichkeit mehr gab. Damit gibt es aber auch keine „geeignete Vergleichstherapie“. Außerdem gibt es glücklicherweise in Deutschland nicht sehr viele Menschen mit HIV, deren Virus eine so ausgeprägte Resistenz aufweist, dass sie dieses Medikament benötigen (man geht von ca. zehn bis maximal 100 Patient:innen aus). Damit ist es eigentlich unmöglich, statistisch aussagekräftige Studien (wie sie der Gesetzgeber fordert) durchzuführen, die einen „Zusatznutzen“ belegen könnten. Erschwerend kommt hinzu, dass andere Länder ähnliche Verfahren haben, die sich aber im Detail unterscheiden. Im Prinzip muss ein Pharmaunternehmen also für jedes Land eine eigene Studie konzipieren – was aufwändig, teuer und manchmal schlicht unrealistisch ist.
Innovationsbremse
Übrigens hat der Gesetzgeber längst erkannt, dass auf bestimmten Gebieten die „Zusatznutzenbewertung“ notwendige Neuentwicklungen ausbremst. So gilt beispielsweise bei Reserveantibiotika der „Zusatznutzen“ als gegeben. Warum diese Regelung aber nicht auf „Reserve-Virustatika“ bei HIV angewendet wird, bleibt rätselhaft.
Ebenfalls ausgenommen von der Zusatznutzenbewertung sind „orphan drugs“, also Medikamente gegen sehr seltene Erkrankungen. Nun könnte man argumentieren, eine multiresistente HIV-Infektion sei eine solche sehr seltene Erkrankung. Aber das „Institut für Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ (kurz IQWIG) vertritt scheinbar dieselbe Ansicht wie die Europäische Zulassungsbehörde EMA, eine HIV-Infektion sei eine HIV-Infektion und auch ein multiresistentes Virus würde keinen „orphan status“ rechtfertigen.
Profitbremse
Der
Hersteller von Lenacapavir Gilead Sciences geht davon aus, dass das
IQWIG, wie zuvor bei Ibalizumab,
keinen Zusatznutzen zugestehen
wird (im Bereich HIV gab es das letzte Mal einen „Zusatznutzen“
beim Vergleich von Darunavir mit Efavirenz). Damit würde der Preis
automatisch auf 10% unter dem Vergleichspräparat abgesenkt. Dieses
„Vergleichspräparat“ wird vom IQWIG oft recht eigenwillig
definiert. Im Falle von Lenacapavir könnte Fostemsavir (Rukobia®)
herangezogen werden. Rukobia®
kostet derzeit (Stand Ende März 2023) 2.662 € pro Monat,
entsprechend 31.944 € pro Jahr. Abzüglich 10% ergäbe das 28.750 €
pro Jahr für Lenacapavir. Selbst bei diesem „abgesenkten“ Preis
dürfte der Hersteller noch Gewinn machen. Aber: Die Pharmahersteller
werden nicht müde zu betonen, dass ja auch die Entwicklung bezahlt
werden muss und dass viele Substanzen es nicht bis zur Marktreife
schaffen. Diese Kosten sind von unabhängiger Stelle schwer
nachzuvollziehen. Hinzu kommt, dass Deutschland von vielen anderen
Ländern (z.B. Japan) als Preisreferenz gesehen wird. Das bedeutet,
die Preise, die in Deutschland für Arzneimittel erzielt werden,
dienen auch in anderen Ländern als Grundlage für die Preisfindung.
Außerdem plant Gilead für die Zukunft Kombinationen anderer
Wirkstoffe mit Lenacapavir und die Vermutung liegt nahe, dass man
sich den Preis nicht vorab „verderben“ will.
Schlechtere Versorgung
Was bedeutet das nun für Menschen mit HIV? Lenacapavir (Sunlenca®), das in Deutschland in Kombination mit anderen HIV-Medikamenten zugelassen ist, wenn keine andere effektive Therapie zusammengestellt werden kann, ist auf dem deutschen Markt nicht erhältlich.
Menschen, die auf Ibalizumab® oder Lenacapavir angewiesen sind, können es zwar über den Importweg bekommen, aber die bürokratischen Hürden und hohen Kosten schrecken auch manchen Arzt ab. Letztendlich läuft es auf die Frage hinaus, was ein Menschenleben kosten darf.
Reformstau
Das Zusatznutzenbewertungsverfahren in seiner heutigen Form muss daher dringend an die Realität besonderer Krankheitsbilder wie HIV (und besonders multiresistentem HIV) angepasst werden. Offenbar versucht Gilead dadurch, dass Lenacapavir dem deutschen Markt vorenthalten wird, politischen Druck aufzubauen. Es ist zu erwarten, dass die Firma versucht, Patient:innen und Ärzt:innen mit „ins Boot“ zu holen. Um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen, sollte Gilead aber Kostenkalkulation und Entwicklungskosten des Medikaments offenlegen. Sonst bleibt ein „Geschmäckle“, dass ein Pharmaunternehmen versucht, schwer kranke Menschen als Geiseln zu nehmen, um maximalen Profit zu erwirtschaften.