PROF. DR. JOHANNES BOGNER, MÜNCHEN
"Eradikation" darf wieder gedacht werden!

Die neuen Wirkprinzipien Integrasehemmung und CCR5-Blockade werden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur die antiretrovirale Therapie in der Salvage verbessern. Bei klugem Einsatz in der frühen Phase der Infektion und bei Kombination mit weiteren Komponenten sind sie grundsätzlich in der Lage, das lange verlassene Ziel einer Viruseradikation zu unterstützen. Neue Studien werden dringend gebraucht.

Es gibt heute zahlreiche Experten, die für eine Person mit heute neu akquirierter HIV-Infektion eine normale Lebenserwartung prognostizieren. Dies erscheint angesichts der aktuellen Leistungsfähigkeit der ART sowie den zu erwartenden und hoch wahrscheinlichen zukünftigen Entwicklungen der HIV-Therapie durchaus gerechtfertigt. Das Ziel der HIV-Medizin ist aber nicht nur die Normalisierung der Lebenserwartung unter einer lebenslangen Therapie. Zu den Zielen der zukünftigen antiretroviralen Therapie gehören auch eine bessere Nachhaltigkeit der Therapie, eine bessere Langzeitverträglichkeit, eine Verringerung der Übertragungshäufigkeit von HIV und letztlich auch die Heilung im Sinn der Viruseradikation.

Gegenüber den bisherigen Therapiezielen (Verlängerung der Überlebenszeit, Verbesserung der Lebensqualität, Verringerung von OI, CD4 Rekonstitution, VL-Unterdrückung) sind das die weitergehenden und deshalb vielleicht auch utopischer anmutenden Wünsche an die Entwicklung der ART.

NEUE WIRKMECHANISMEN

Lebenserwartung bei HIV

Beim Blick auf die letzten 20 Jahre wird die stetige Verbesserung der ART gemessen am wichtigsten und härtesten Endpunkt sichtbar. Die Überlebenszeit ist von unter einem Jahr auf Jahrzehnte angestiegen. In einer dänischen Kohorte wurde die mittlere Lebenserwartung mit HIV-Infektion in der Zeit vor Einführung der HAART auf 32 Jahre berechnet1. In der Zeit nach 1995 stieg sie auf 50 Jahre an. Für die Zeit nach 2005 wird die mittlere Lebenserwartung dieser Studie noch auf 65 Jahre geschätzt. Im Vergleich zur nicht HIV-infizierten Bevölkerung fehlen also "nur" noch knapp 15 Jahre Lebenszeitverlängerung.

Die „klassische“ ART in Vergangenheit und Gegenwart zielt auf die Inhibition von reverser Transkriptase und Protease, wobei jeweils drei Substanzen kombiniert werden. Mittlerweile ist jedoch das Repertoire an molekular definierten Wirkmechanismen deutlich erweitert worden. Die neuen Prinzipien zielen einerseits auf den Schutz der bislang nicht infizierten Zellen (Attachment-Inhibitoren, Fusionsinhibition, Rezeptorblockade) und andererseits auf Blockade der Integration der viralen DNA in das Wirtsgenom infizierter Lymphozyten (Integrase-Inhibitoren). Einige dieser Substanzen stehen schon jetzt zur Verfügung bzw. werden demnächst zur breiten Anwendung zugelassen.

Für den CCR5-Antagonisten Maraviroc wurde bereits in einer Dosisfindungsstudie eine außerordentlich hohe virale Potenz gezeigt2. Die Substanz verminderte in einer kurzfristigen Monotherapie die Viruslast bereits nach 2 Wochen um rund 1,5 log10 -Stufen. Im Salvage-Bereich zeigen die Motivate-Studien eine hohe Wirksamkeit in Verbindung mit einer OBT (Optimized Background Therapy).

Auch für den Integrasehemmer Raltegravir wurde in einer Studie an therapienaiven Patienten eine hohe Erfolgsquote und rasche Wirkung gezeigt3. Dabei war die Zeit bis zum Erreichen einer Virussuppression kürzer als bei der Vergleichssubstanz Efavirenz. Bei Patienten mit Dreiklassen - Therapieversagen wurde in den Benchmrk- Studien bei einem hohen Anteil (ca. 60%) von Patienten eine komplette Suppression der Virusreplikation erreicht4.

Neben diesen antiretroviralen Substanzen befinden sich auch weniger spezifische Wirkprinzipien im Sinn einer immunmodulatorischen Wirkung in der Entwicklung, z.B. Interleukin 2 und erste Ansätze für eine therapeutische Vakzine. Eine Reihe von kleineren Studien hat bereits gezeigt, dass die Anwendung von Interleukin 2, einem Lymphozyten-Wachstumsfaktor, nicht nur zu einem sehr deutlichen Anstieg der Helferzellen führt, sondern auch zu einem relativ langen Anhalten des Effekts von nur wenigen Zyklen (ein Zyklus = 5 Tage lange Anwendung durch subkutane Injektion). Für einige therapeutische Vakzine-Produkte konnte ein signifikanter Effekt im Sinn einer messbaren Verbesserung der Immunantwort gegen HIV erreicht werden. Genauso wie bei IL2 ist derzeit noch offen, ob diese Erfolge auch den klinischen Verlauf der HIV-Infektion positiv beeinflussen. Das ist nun Gegenstand von Studien wie ESPRIT und STALWART sowie von neuen Vakzineprogrammen.

Hier ist eine Zulassung allerdings noch nicht in Sicht.

ERADIKATION: ALTE BERECHNUNG

In der Zeit nach Einführung der hochaktiven, d.h. PI-haltigen ART nach 1996 kam aufgrund von Beobachtungen von Viruskinetik und Kinetik der CD4-Zell-Regeneration die Hoffnung auf, man könne HIV eradizieren, wenn nur lange genug therapiert wird5. Das mathematische Modell des Verschwindens von HIV-infizierten Zellen aus dem Körper basierte allerdings auf einigen Voraussetzungen (die sich bei näherer Betrachtung als nicht zutreffend erwiesen haben), nämlich der vollständigen und kompletten Replikationshemmung, dem Erreichen aller Virusreservoirs (also auch des Nervensystems und z.B. des Gonadengewebes) und einer hinreichend kurzen Lebensdauer der latent infizierten, ruhenden Zellen.

Die damalige mathematische Formel lautete6:

Dabei sind: V = Konzentration freier Virus-partikel, N = Zahl von Viren aus einer produktiv infizierten Zelle, d = Absterberate produktiv infizierter Zellen, T* = Konzentration produktiv infizierter T-Zellen c = Abnahmekonstante von freiem Virus

VIRUSLATENZ


Abb. 1: Die verschiedenen Phasen des Rückgangs der Viruslast unter einer ART. Nach Pierson et al., 20006

Die wichtigste Frage auf dem Weg zur Viruseradikation ist die Frage nach der Freisetzung von Virus aus dem Reservoir latent infizierter Zellen jenseits des im Plasma messbaren Grenzwertes von bei- spielsweise 40 Kopien/ml. Aus Untersuchungen am lymphatischen Gewebe weiß man, dass auch bei kompletter Suppression der Virusreplikation und einer Viruslast unter der Nachweisgrenze im Plasma, immer provirale DNA in lymphatischen Zellen der Lymphfollikel nachgewiesen werden kann. Dieses Phänomen wird als Viruslatenz bezeichnet, wobei man hier die Präintegrations-Latenz (provirale DNA verbleibt im Zytoplasma vor Integration) und die Postintegrations-Latenz (nukleär integrierte provirale DNA; <0,1% aller ruhen-den CD4-Zellen) unterscheidet (Abb. 1).

Durch die Therapie der akuten HIV-Infektion mit konventioneller ART ist das Entstehen eines latent infizierten Zellpools nicht zu verhindern. Die Dauer der HAART bis zur Eradikation dieses latenten Zellpools wurde mit verschiedenen Modellen berechnet. Die Ergebnisse waren sehr unterschiedlich. Die Gruppe von Finzi und Kollegen schätzte die Halbwertszeit ruhender Zellen auf 44 Monate7. Daraus würde sich bei 105 Zellen eine Eradikationsdauer von bis zu 60 Jahren ergeben7. In einer weiteren Schätzung von Zhang et al. würde bei einer Halbwertszeit der ruhenden Zellen von 6 Monaten „nur“ eine Eradikationsdauer von 7-10 Jahren resultieren8. In einer aktuellen Mitteilung von Chun und Kollegen aus der Arbeitsgruppe von A. Fauci jedoch wurde anhand der Zellkinetik bei 7 Patienten, die schon bei akuter HIV-Infektion behandelt worden waren, eine weitaus kürzere Therapiedauer berechnet. Hier liegt die geschätzte Halbwertszeit der ruhenden Zellen bei 4,6 Monaten und die daraus resultierende Eliminationszeit bei 7,7 Jahren9.

ERADIKATION DENKBAR


Abb. 2: Neue Wirkstoffe: CCR5 und Integrase-Inhibition. Nach Pierson & McArthur: Annu. Rev. Immunol. 2000. 18:665-708

Nimmt man die neue Berechnung des Latenzpools und die Tatsache der neuen ART-Werkzeuge zusammen, so kann daraus abgeleitet werden, dass sich die Voraussetzungen für das Erreichen einer Eradikation geändert haben. Selbst wenn eine jahrelange Therapie (z.B. 8 bis 10 Jahre) erforderlich wäre, die Eradikation durch Kombination neuer und bewährter molekularer Prinzipien ist theoretisch denkbar. Eine Hemmung der HIV-Replikation an vier Stellen würde bedeuten, dass selbst im Fall einer „nur“ 99,99-prozentigen Wirkung genügend „Sicherheitsstufen“ vorhanden sind, um den latenten Zellpool zu verringern und schließlich zu eliminieren (Abb. 2).

„HAART-PLUS“

Konkret umgesetzt würde die neue Strategie einen möglichst frühzeitigen Therapiebeginn und eine Kombination mit jeweils einer Substanz aus jeder Gruppe beinhalten. Ein geeigneter Begriff für die neue Strategie wäre „HAART-Plus“, d.h. eine HAART, die zeitweise um zwei Komponenten ergänzt wird, um dem Ziel der Eradikation näher zu kommen. Denkbar wäre ferner, HAART-Plus mit einer Pulstherapie zu kombinieren, die ruhende Zellen stimuliert. Interleukin-2 in Kombination mit anderen Zytokinen könnte im Sinn eines Zytokinsturms eine „Induktion“ erzielen, die latentes Virus für Immunsystem und ART erreichbar werden lässt. Wenn dabei gleichzeitig die neue Infektion von bislang nicht infizierten Bystander-Zellen (das sind noch nicht infizierte CD4 Lymphozyten, die sich „neben“ infizierten Zellen befinden und durch die Immunaktivierung empfänglich sind für die Neuinfektion mit HIV) verhindert wird, verlöre die Infektion im weiteren Verlauf immer mehr „an Boden“.

Diese Überlegungen basieren nicht auf zukünftigen, sondern auf gegenwärtigen Möglichkeiten. Die Werkzeuge für ein solches Vorgehen liegen bereits heute vor. Es müssten lediglich entsprechende strategische Studien konzipiert und finanziert werden, um das Prinzip auf Richtigkeit zu testen. Surrogatparameter für den Erfolg wären ruhende Zellen und provirale DNA. Eine Endpunktstudie mit 10 Jahren Dauer erscheint jedoch gegenwärtig aus vielen Gründen nicht machbar.

ENTWICKLUNG ÜBERMORGEN

Zu klären…

Zu den offenen Fragen auf dem Weg zur Heilung gehört die Frage nach der Erreichbarkeit aller Kompartimente insbesondere des zentralen Nervensystems. Hier kann man - selbst wenn die Gewebegängigkeit (nicht nur Liquorgängigkeit) der neuen Substanzen nicht kurzfristig evaluierbar ist - auf Erkenntnisse bei den bereits bewährten Substanzen zurückgreifen. Eine weitere Frage betrifft die Verträglichkeit einer Kombination wie HAART-Plus. Doch selbst bei Konzepten wie Mega- oder Giga-HAART war die Machbarkeit in vielen Fällen überraschend wenig durch Toxizität begrenzt.

Bislang ist jedes Jahr mindestens eine neue Substanz auf den Markt gekommen. Dieses Jahr stehen gleich zwei neue Mechanismen vor der Tür. Und gleich dahinter kommen noch weitere Entwicklungen, z.B. Integrase-Inhibitoren der zweiten Generation mit höherer genetischer Resistenzbarriere.

Auch neue Wirkprinzipien sind in Sicht. Besonders interessant erscheinen die Histondeacetylase-Inhibitoren. Histondeacetylasen (HDACs) sind für die Aufrechterhaltung der viralen Latenz wichtig. Sie unterdrücken durch dichte Bindung an die zelluläre DNA die Bindung nukleärer Expressionfaktoren. Das allerneueste Prinzip beruht auf dem Einsatz von der DNA-Desintegrase, die die HIV-DNA quasi aus der Zellkern-DNA „herausschneidet“. Es ist ebenfalls geeignet, die Eradikation zu verfolgen und wohl auch zu beschleunigen. VPU-Ionenkanal-Inhibitoren (VPU ist ein viruseigenes Enzym, das den Durchtritt von neu produzierten Virusteilen im Sinn einer Ausschleusung fördert) werden über eine Hemmung des Virusassembly und der Virusfreisetzung die Infektion neuer Zielzellen verhindern. Für Interleukin 7 wurde gezeigt, dass es im Prinzip eine immunmodulatorische Therapie unterstützen kann.

Prof. Dr. Johannes Bogner
Infektionsabteilung Med. Poliklinik,
Klinikum der Universität München
Campus Innenstadt
Pettenkoferstr. 8a - 80336 München
Email: Johannes.Bogner@med.uni-muenchen.de

Literatur

1. Lohse N. Survival of persons with and without HIV infection in Denmark, 1995-2005. 2007.

2. Fätkenheuer G. Efficacy of short-term monotherapy with maraviroc, a new CCR5 antagonist, in patients infected with HIV-1. 2005.

3. Laurence J. Pivotal moments in HIV treatment: the 14th CROI. 2007.

4. Grinsztejn B. Safety and efficacy of the HIV-1 integrase inhibitor raltegravir (MK-0518) in treatment-experienced patients with multidrug-resistant virus: a phase II randomised controlled trial. 2007.

5. Chun TW. Latent reservoirs of HIV: obstacles to the eradication of virus. 1999.

6. Pierson T. Reservoirs for HIV-1: mechanisms for viral persistence in the presence of antiviral immune responses and antiretroviral therapy. 2000.

7. Finzi D. Latent infection of CD4+ T cells provides a mechanism for lifelong persistence of HIV-1, even in patients on effective combination therapy. 1999.

8. Zhang L. Quantifying residual HIV-1 replication in patients receiving combination antiretroviral therapy. 1999.

9. Chun TW. Decay of the HIV Reservoir in Patients Receiving Antiretroviral Therapy for Extended Periods: Implications for Eradication of Virus. 2007.

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