Dr. Nils Postel und Dr. Ramona Volkert, München
Neue Europäische
Leitlinien
Auf der 11. Europäischen AIDS-Konferenz Ende Oktober wurden die umfassend überarbeiteten Leitlinien der European AIDS Clinical Society (EACS) veröffentlicht. Neben allgemeinen Empfehlungen zum Management der HIV-Infektion und zur Therapie von Hepatitis-Koinfizierten hat die europäische AIDS-Gesellschaft zudem erstmals weltweit separate Empfehlungen zu Prävention und Management metabolischer Komplikationen vorgelegt. Im Folgenden geht es primär um die Leitlinien zur Behandlung der HIV-Infektion.
PRIMÄRE HIV-INFEKTION
Die akute primäre HIV-Infektion wird definiert als:
- Hochrisikoexposition in den letzten zwei bis acht Wochen
- und klinische Symptome
- und nachweisbar HIV im Plasma (p24Ag oder HIV-RNA >10.000 Kopien/ml)
- und negativer oder fraglich positiver ELISA und Western Blot <1 Bande
In dieser Situation wird empfohlen, nach drei bis sechs Wochen einen erneuten HIV-Antikörper-Test und eine Resistenzanalyse durchzuführen. Sollte diese nicht möglich sein, sollte eine Probe für eine spätere Untersuchung eingefroren werden.
Eine klare Therapieindikation besteht bei Aids-definierenden Ereignissen oder einer CD4-Zellzahl <350/µl ab drei Monaten post infectionem. Eine Therapie ist zu erwägen, wenn der Patient klinisch schwer krank ist bzw. die Beschwerden - insbesondere ZNS-Symptome - länger andauern. In allen anderen Fällen ist die Behandlung "optional". Die Indikation beruht lediglich auf "theoretischen Überlegungen".
Prinzipiell wird die Teilnahme an einer klinischen Studie empfohlen. Meist sollte man - so der Text weiter - bis zu Monat sechs warten und dann den Leitlinien für die chronische Infektionen folgen. Einige Experten empfehlen die Behandlung als Mittel zur Prävention der HIV-Transmission.
ANMERKUNGEN
Die Definition der akuten HIV-Infektion ist eindeutig formuliert. Selbstverständlich ist jedoch eine HIV-Infektion auch dann "akut" und "primär", wenn sie klinisch inapparent verläuft. Hier wäre ein "eventuell" bezüglich der klinischen Symptome besser gewesen. Eine Therapie der akuten Infektion wird wie bereits in den alten Leitlinien ab einer CD4-Zahl <350/µl nach Ablauf von drei Monaten empfohlen. Neu ist der allgemein gehaltene Hinweis auf den Effekt der HAART im Rahmen der Transmissions-Prophylaxe. Die Behandlung aus "epidemiologischer" Indikation wird allerdings aus ethischen Gründen kontrovers diskutiert.
THERAPIE DER CHRONISCHER HIV-INFEKTION
Indikationen für die Einleitung einer antiretroviralen Therapie bei naiven Patienten sind:
- CDC-Stadium B und C
- CD4-Zahl <200/µl - sofortiger Thera-piebeginn
- CD4-Zahl 201-350/µl - Therapie empfohlen
- CD4-Zahl >350/µl kann angeboten werden, wenn VL >100.000 K/ml und/oder CD4-Abfall >50-100/µl/Jahr oder Alter >55 Jahre oder Hepatitis C-Koinfektion
- Therapie kann individuell unabhängig von Viruslast und Immunstatus angeboten werden, insbesondere wenn der Patient es wünscht und "ready" ist.
Vor Therapiebeginn sollte ein genotypischer Resistenztest sowie die Bestimmung des Subtyps erfolgen. Falls kein Resistenztest möglich ist, sollte das Firstline-Regime einen geboosterten Proteasehemmer enthalten. Man sollte sich genügend Zeit nehmen, den Patienten vorzubereiten, um die zukünftige Adhärenz sicherzustellen.
ANMERKUNGEN
Die entscheidende - und weltweit erstmalige - Neuerung ist die Empfehlung zum früheren Therapiebeginn. Die neuen Leitlinien sehen bei einer CD4-Zahl zwischen 201 bis 350 CD4-Zellen/µl auch bei asymptomatischen Patienten eine Therapie indiziert. In den mittlerweile veralteten US-amerikanischen DHHS-Guidelines sowie in den Guidelines der "International AIDS Society" und auch in den alten EACS-Leitlinien hieß es, man soll die Therapie "erwägen". Die neue Empfehlung der EACS beruht auf den Ergebnissen der SMART-Studie (13. CROI, 2006). Diese Untersuchung hat überraschenderweise gezeigt, dass die kontinuierliche Therapie bei einer CD4-Zahl zwischen 200 und 350/µl effektiver und besser verträglich ist als ständige Unterbrechungen der Behandlung mit konsekutivem Abfall der Helferzellen. Subgruppenanalysen der SMART-Studie weisen auch auf einen Nutzen eines früheren Therapiebeginns hin, wie er jetzt in den Leitlinien empfohlen wird. Dennoch gibt es keine wissenschaftlich eindeutige Evidenz für diese Empfehlung. Erst die im nächsten Jahr beginnende START-Studie kann diese Frage klären. Im Bereich von CD4-Werten zwischen 350 und 500/µl und >500/µl gibt es keine Änderungen. Der Tenor der europäischen Leitlinien ist Individualisierung und Differenzierung: Versagt werden sollte keinem Patienten eine Therapie - auch nicht bei normaler Helferzellzahl, niedriger Viruslast und fehlender Klinik. Entscheidend sei, dass der Patient die Therapie wolle und "ready" sei. Patienten über 55 Jahre, eine Viruslast über 100.000 Kopien/ml, eine Hepatitis C-Infektion oder eine starke Dynamik des CD4-Abfalls: all diese (Ko-)Faktoren gehen mit einer schlechteren Prognose einher und erfordern stärker eine "integrierte" Therapieentscheidung als es die alleinige Orientierung an absoluten CD4-Zellzahlen erlaubt. Man darf gespannt darauf sein, ob die Behandler und Patienten in Deutschland sowie die Leitlinien der anderen Fachgesellschaften dem neuen Trend folgen werden.
FIRSTLINE-REGIME
NRTI-Backbone der Wahl für die Firstline-Therapie sind die Fixkombinationen Tenofovir/Emtricitabin (TDF/FTC) und Abacavir/Lamivudin (ABC/3TC). Als Kombinationspartner werden Efavirenz bzw. Nevirapin (mit den bekannten Einschränkungen) oder die geboosteten Proteasehemmer Fosamprenavir (f-APV), Lopinavir (LPV) oder Saquinavir (SQV) empfohlen. Alternativen sind Zidovudin/Lamivudin (ZDV/3TC), Didanosin (ddl)+Lamivudin (oder Emtricitabin; ddI+3TC oder FTC), allerdings nur, wenn die empfohlenen NRTI unverträglich oder nicht erhältlich sind. Alternativ wird bei den Proteasehemmern geboostetes Atazanavir (ATV/r) genannt, welches keine Europazulassung für die Firstline-Therapie besitzt, aber - so der Text "von einigen Ärzten eingesetzt wird". In der Rubrik Hinweise finden sich Angaben zu den Dosierungen bei einmal bzw. zweimal täglicher Applikation.
ANMERKUNGEN: NRTI
Die Kombination ZDV/3TC, die jahrelang die Riege der Backbone-Optionen anführte, ist jetzt erstmals in die zweite Reihe der NRTI-Wahlmöglichkeiten gerückt. Der zunehmenden Evidenz eines vergleichsweise ungünstigen metabolischen Profils von AZT/3TC (ACTG 5142 [96 Wochen], GS 903 [288 Wochen], GS 934 [144 Wochen]) tragen die neuen Empfehlungen jetzt erstmals Rechnung. An erster Stelle stehen stattdessen die neueren Ko-Formulierungen TDF/FTC bzw. ABC/3TC, die mindestens äquipotent zu AZT/3TC sind (CNA30024, ICAAC 2003; GS934, ICAAC 2004 und IAS 2007). Neu aufgenommen wurde die Empfehlung, vor geplanter Abacavir-Therapie HLA-B5701 zu bestimmen. Bei Negativität kann man aufgrund neuer Daten (PREDICT-Studie, 4. IAS-Konferenz, 2007) mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es nicht zur Hypersensitivitätsreaktion kommt. Dies entbindet zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings nicht von einer sorgfältigen Patienten-Aufklärung, wie die Leitlinien richtigerweise betonen.
Auswahl eines Wirkstoffes aus Spalte A und einer NRTI-Kombination aus Spalte B |
A | B | Hinweise |
---|---|---|---|
Empfohlen | EFV NVP4 oder f-APV/r LPV/r SQV/r |
ABC/3TC2-3 TDF/FTC |
ABC/3TC Ko-Formulierung TDF/FTC Ko-Formulierung f-APV/r: 2x 700/100 mg oder 1x 1.400/100 mg LPV/r: 2x 400/100 mg oder 1x 800/200 mg SQV/r: 2x 1.000/100 mg oder 1x 1.500/100 mg oder 1x 2.000/100 mg |
Alternativen | ATV/r5 | AZT/3TC | AZT/3TC Ko-Formulierung |
ddI/3TC oder FTC6 |
1. nicht empfohlen bei Schwangeren oder Frauen ohne zuverlässige Kontrazeption; nicht wirksam gegen HIV-2 und HIV-1, Gruppe 0
2. kontraindiziert falls HLA B5701 positiv. Auch bei Negativität Beratung des Patienten über HSR-Risiko erforderlich
3. ABC + NVP kontraindiziert; gilt nicht, wenn HLA-B5701 negativ
4. Besondere Vorsicht bei Frauen mit >400/µl und Männern mit >250/µl Helferzellen zu Behandlungsbeginn; nicht wirksam gegen HIV-2 und HIV-1, Gruppe 0
5. von FDA zugelassen, jedoch noch nicht von der EMEA. Einige Ärzte setzen ATV/r bei Firstline-Patienten ein
6. nur einzusetzen, falls Unverträglichkeit gegen andere NRTI oder diese nicht verfügbar
ANMERKUNGEN: THIRD AGENT
Die Empfehlungen zu den NNRTI sind gleich geblieben. Nevirapin und Efavirenz werden gleichberechtigt nebeneinander gestellt. Damit unterscheiden sich die europäischen Leitlinien von den US-amerikanischen DHHS-Guidelines, die Efavirenz bevorzugt empfehlen und von den britischen BHIVA-Guidelines, die Efavirenz - sofern keine Kontraindikationen bestehen - sogar als Bestandteil einer jeden Firstline-HAART empfehlen (beide von 2006). Die genannten PI stehen ebenfalls gleichberechtigt nebeneinander. Dies reflektiert die aktuelle Studienlage. In der KLEAN-Studie (4. IAS-Konferenz, 2007) war f-APV/r dem LPV/r nicht unterlegen und auch in der GEMINI-Studie (Glasgow 2006; EACS 2007) zeigte sich eine Nicht-Unterlegenheit, wobei zu berücksichtigen ist, dass virologisches Versagen und mangelnde Adhärenz im SQV/r-Arm häufiger waren.
Noch nicht berücksichtigt wurden dagegen die Daten der ARTEMIS-Studie (ICAAC 2007 und EACS 2007), in der Darunavir/r QD gegenüber Lopinavir/r QD bei hoher Viruslast >100.000 Kopien/ml signifikant überlegen war.
ANMERKUNGEN: DOSIERUNGSHINWEISE PROTEASEHEMMER
Bei den Hinweisen zu den PI-Dosierungen stehen die einmal tägliche und zweimal tägliche Gabe gleichberechtigt nebeneinander. Ob diese Dosierungsschemata tatsächlich gleichwertig sind, ist fraglich. Vielmehr gibt es deutliche Hinweise auf eine schlechtere antiretrovirale Potenz von LPV/r bei Patienten mit einer Viruslast von >100.000 Kopien/ml bei einmal täglicher Gabe (ACTG 5073, CROI 2007 und ARTEMIS, EACS 2007). Gänzlich unklar ist, wieso SQV/r gleichberechtigt neben der zweimal täglichen Gabe auch einmal am Tag empfohlen wird. Für eine Dosierung von 1x 1.500/100 mg liegen gar keine Daten, für eine Dosierung von 1x 2.000/100 mg liegen nur Bioäquivalenzdaten zur Pausenstudie STACCATO vor - die an leichtgewichtigen Thailändern durchgeführt wurde. Lediglich die Dosierung f-APV/r 1.400/100 mg QD hat sich in der kleinen ALERT-Studie (ICAAC 2006) an 106 therapienaiven Patienten ATV/r 300/100 mg QD als gleichwertig erwiesen.
VIROLOGISCHES VERSAGEN
Ein virologisches Versagen liegt vor, wenn die Viruslast nach sechs Monaten Therapie noch >50 Kopien/ml beträgt. Bei einer Viruslast >50 und <500-1.000 Kopien/ml sollte man engmaschig überwachen und die "Pharmakokinetik geboosterter Proteasehemmer verbessern". Bei einer bestätigten Viruslast >500/1.000 Kopien/ml sollte man die Therapie zügig gemäß den Ergebnissen eines dann durchzuführenden Resistenztests umstellen.
Definition | Bestätigte Plasma-HIV-RNA-Viruslast >50 Kopien/ml, gemessen sechs Monate nach Therapieinitiierung oder -umstellung unter laufender ART |
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Allgemeine Maßnahmen |
Einschätzung/Überprüfung von Adhärenz, Verträglichkeit, Medikamenten- Interaktionen, Nahrungsmittel-Interaktionen, psychosozialen Problemen Genotypisierung während laufender Therapie (im Allgemeinen möglich ab >500-1.000 Kopien/ml) und Einbeziehung früherer Resistenztests zur Beurteilung evtl. archivierter Mutationen Spiegelmessungen (therapeutic drug monitoring, TDM) in Betracht ziehen kritische Betrachtung der ART-Anamnese noch wirksame und möglicherweise noch wirksame Substanzen identifizieren |
Management des virologischen Versagens (VF) |
Falls Plasma-HIV-RNA >50 und <500-1.000 Kopien/ml:
Adhärenz überprüfen erneute Messung der Viruslast nach ein bis zwei Monaten wenn möglich: Verbesserung der Pharmakokinetik des Proteasehemmers Falls Plasma-HIV-RNA bestätigt >500/1.000 Kopien/ml, Regimenwechsel dringend erforderlich - die Substanzen ergeben sich aus dem Resistenztest: keine Resistenzmutationen nachweisbar: erneute Überprüfung der Adhärenz, Medikamentenspiegel-Messungen (TDM) Resistenzmutationen nachweisbar: ART-Wechsel auf ein suppressives Regime gemäß der Behandlungshistorie; kollegialer Austausch ratsam Zielsetzung des neuen Regimes: Plasma-HIV-RNA <400 Kopien/ml nach drei Monaten; Plasma-HIV-RNA <50 Kopien/ml nach sechs Monaten |
Im Falle nachweisbarer Resistenz- mutationen |
Allgemeine Empfehlungen:
Das neue Regime sollte zwei oder vorzugsweise drei voll wirksame Substanzen enthalten (einschließlich voll wirksamer Substanzen bereits eingesetzter Substanzklassen) Das neue Regime sollte mindestens eine Substanz einer bisher noch nicht eingesetzten Klasse beinhalten, wie beispielsweise einen Fusions-, Integrase- oder CCR5-Inhibitor Kein Regimewechsel, falls gemäß Resistenztest nur eine voll wirksame Substanz verfügbar ist; ausgenommen hiervon sind Patienten mit CD4- Zellzahl <100/µl oder einem hohen Risiko klinischer Verschlechterung. Hier ist das Therapieziel die Aufrechterhaltung der Immunfunktion durch eine gewisse Viruslastreduktion (>1 log-Stufe) durch Wiederverwendung vormals eingesetzter Substanzen Bei eingeschränkten Optionen sollte an experimentelle Wirkstoffe mit neuem Wirkmechanismus gedacht werden; Teilnahme an klinischen Studien. Funktionelle Monotherapie ist zu vermeiden Therapieunterbrechung wird nicht empfohlen Optimierung des neuen Regimes: Vermeidung von NNRTI bei NNRTI-erfahrenen Patienten (keine Akkumulation weiterer Resistenzen); Etravirin bei mäßiger NNRTI-Resistenz potentiell noch wirksam Weiterführung von 3TC oder FTC kann auch bei bestehender Resistenzmutation (M184V/I) sinnvoll sein Einsatz weiterer, potentiell wirksamer NRTI auf der Basis der Medikamenten-Anamnese und aller verfügbarer Resistenztestungen (frühere und aktuelle) Einsatz eines voll wirksamen geboosteten Proteasehemmers. Falls möglich: Vermeidung von Doppel-PI gründliche Überprüfung von Medikamenten-Interaktionen. Falls erforderlich und möglich, Messung der Medikamentenspiegel der neuen Substanzen Sofern mehrere Optionen zur Verfügung stehen, sollten folgende Kriterien besonders berücksichtigt werden: Einfachheit des Regimes, Verträglichkeit, Medikamenten-Interaktionen, zukünftige Salvage-Therapie |
ANMERKUNGEN
Die Definition des virologischen Versagens entspricht dem aktuellen - strengen - Standard. Längeres Zuwarten bei nicht komplett suppressiver Therapie ist nicht mehr akzeptabel. Man fragt sich allerdings, wieso die Leitlinien konsequent schwammig von "500/1.000 Kopien/ml" sprechen. Mag man sich nicht entscheiden? Wann ist ein Blip noch ein Blip und vor allem: Wie häufig darf er auftreten, um noch als solcher zu gelten? Mit diesen Fragen werden die Kliniker allein gelassen.
Das Leitlinienkomitee gibt der Genotypisierung richtigerweise erhebliches Gewicht und empfiehlt eine Therapie-Umstellung auf mindestens zwei oder - besser - drei aktiven Substanzen. Hier gibt es erfreulich detaillierte Vorschläge, z.B. auf NNRTI bei Patienten mit NNRTI-Erfahrung zu verzichten, weil die Akkumulation mehrerer NNRTI-Resistenzmutationen die Wirksamkeit von Etravirin beeinträchtigen könnte.
SCHWANGERSCHAFT
Die mütterliche Indikation für eine HAART ist bei schwangeren und nicht-schwangeren Frauen gleich. Bei Frauen mit einer nicht dringlichen Therapieindikation wird der Beginn der HAART im zweiten Trimester empfohlen. Zur Transmissionsprophylaxe ohne mütterliche Indikation sollte die HAART zu Beginn der 28. SSW eingeleitet werden. Innerhalb der Gruppe der antiret-roviralen Substanzen werden Efavirenz (EFV), Didanosin+Stavudin (ddI+d4T), Tenofovir (TDF) sowie Triple-Nuke-Kombinationen als kontraindiziert eingestuft. Zidovudin ist ein erwünschter Bestandteil des Regimes; Nevirapin und Abacavir sind es nur dann, wenn sie bereits vor der Gravidität eingenommen wurden. Bei den Proteasehemmern sollte man LPV/r und SQV/r den Vorzug geben. Eine Sektio ist bei Frauen mit einer Viruslast unter der Nachweisgrenze nach der SSW 34 nicht mehr indiziert.
Kriterien für ART-Beginn bei schwangeren Frauen | wie bei nicht-Schwangeren, HIV-infizierten Frauen |
Therapieziel bei schwangeren Frauen | Plasma-HIV-RNA-Viruslast-Suppression ab dem dritten Trimenon und insbesondere zum Zeit- punkt der Geburt |
Resistenztestung | wie bei nicht-Schwangeren: vor initialer ART und bei virologischem Versagen (s.o.) |
Szenarien:
1. Patientin wird unter bestehender ART schwanger 2. Patientin ist therapienaiv, aber behand- lungsbedürftig und wird schwanger 3. Patientin ist therapienaiv, nicht behand- lungsbedürftig und wird schwanger 4. Schwangere, die sich erst nach der 28. SSW vorstellen |
1. Weiterführung der ART; Austausch terato- gener Substanzen gegen unbedenkliche 2. Optimal: ART-Beginn zu Beginn des zweiten Trimenon 3. ART-Beginn zu Beginn der 28. SSW, spätes- tens jedoch 12 Wochen präpartal. Früherer Beginn bei hoher Viruslast oder drohender Frühgeburt 4. sofortiger ART-Beginn |
Antiretrovirale Regime während der Schwangerschaft | wie bei nicht-Schwangeren außer
Vermeiden von TDF und EFV ABC und NVP sollen nicht neu begonnen wer- den, können aber - sofern vor Schwanger- schaft bereits begonnen - fortgeführt werden Unter den geboosteten Proteasehemmern sollten LPV/r oder SQV/r bevorzugt eingesetzt werden AZT sollte, sofern möglich, bevorzugt einge- setzt werden |
Kontraindizierte Wirkstoffe während der Schwangerschaft | Efavirenz, Kombination von ddI und d4T, TDF, Triple-Nuc-Kombinationen |
i.v.-AZT peripartal | Nutzen ungewiss bei VL <50/Kopien/ml |
Einzeldosis Nevirapin peripartal | nicht empfohlen |
Sectio cesariae | Indiziert. Nicht bei VL <50/Kopien/ml in 34. bis 36. SSW |
PEP empfohlen, wenn... | ||
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Art der Exposition | Status Index-Patient | |
Blut | Subkutane oder intramuskuläre Penetration mittels Hohlnadel | HIV+ oder Serostatus unbekannt bei vorhandenen Risiko- faktoren |
Perkutane Verletzung mittels scharfem instrument (Lanzette), i.m., s.c. oder chirurgischer Nadel | HIV+ | |
>15 min Kontakt auf Schleimhaut oder verletzter, verhornter Haut | ||
Genitalsekret | Analer oder vaginaler Geschlechtsverkehr | HIV+ oder Serostatus unbekannt bei vorhandenen Risikofaktoren |
Rezeptiver oraler Geschlechtsverkehr mit Ejakulation | HIV+ | |
Intravenöser Drogengebrauch | Nadel- oder Spritzentausch | HIV+ |
ANMERKUNGEN
Leitlinien sollen leiten
Leitlinien sind keine Richtlinien, d.h. sie haben rechtlich keinen verbindlichen Charakter. Man muss sich also nicht daran halten. Dennoch sind Leitlinien - insbesondere wenn sie von renommierten Fachgesellschaften herausgegeben werden - eine wichtige Orientierungshilfe. Ihre Erstellung folgt einem festgelegten Procedere und die Empfehlungen basieren stets auf dem höchstmöglichen Evidenzgrad. Zumindest war das in der Vergangenheit so. Neuerdings gehen die Fachgesellschaften einen anderen Weg. Unter dem Schlagwort "lebendes Dokument" wird versucht, eher die Behandlungsrealität abzubilden und in die Zukunft zu sehen. Auf Empfehlungen mit hohem Evidenzgrad scheint man weniger Wert zu legen. So auch in den aktuellen Empfehlungen der EACS.
Trendy: Früher therapieren
In den Empfehlungen der EACS zur Therapieindikation wird die Behandlung jetzt bei einer Helferzellzahl von unter 350/µl empfohlen. Das ist neu, das ist modern, das ist der aktuelle Trend. Doch ist das auch evidenzbasiert? Sicherlich gibt es einige Daten, die für ein solches Vorgehen sprechen, doch warum brauchen wir denn dann noch die große START-Studie, wenn alles vermeintlich schon so klar ist, dass man es in europäische Leitlinien schreibt? Gerade die SMART-Studie, aus der diese Daten stammen, zeigt doch, wie sehr man sich täuschen kann.
Mutig: Manche machen es anders
Bei der Firstline-HAART werden Substanzen ohne Zulassung für diese Indikation genannt, zwar mit der Anmerkung, dass diese fehlt, aber mit dem merkwürdigen Zusatz, dass "manche diese Substanz in der Firstline einsetzen". Was soll uns das sagen, fragt sich der geneigte Leser? Dass es einige besonders schlaue Behandler gibt, die mehr wissen als andere? Dass man selbst mutiger werden sollte?
Willkürlich: Dosierung einmal täglich
Neben den Empfehlungen zu den Proteasehemmern im Firstline-Regime werden in den Anmerkungen nicht nur die zugelassene, sondern gleichgestellt auch Möglichkeiten zur einmal täglichen Dosierung genannt. Diese ist praxisnah und zukunftsweisend, doch keineswegs in jedem Fall evidenzbasiert. RV
Hier gilt im Wesentlichen Altbekanntes. Tenofovir sollte - bis validere Daten vorliegen - sehr zurückhaltend eingesetzt werden. Tierstudien haben eine gesteigerte Knochenporosität und ein vermindertes fetales Wachstum gezeigt, wenn auch in weitaus höheren Dosierungen als beim Menschen. Gleichzeitig wird Tenofovir weiter unten als kontraindiziert genannt. Das stellt zum einen einen Widerspruch zur Aussage "Vermeiden" dar. Zum anderen ist es fraglich, ob Tenofovir dem nachweislich teratogenen Efavirenz gleichgestellt werden sollte. Zur Verbesserung der Datenqualität in der Schwangerschaft sollten alle beitragen, indem man jede Schwangerschaft prospektiv an das internationale HIV-Schwangerschaftsregister APR meldet (www.APRegistry.com; gebührenfreie Telefonnummer für Deutschland: 00800/5913-1359).
POSTEXPOSITIONS-
PROPHYLAXE (PEP)
Die PEP sollte idealerweise spätestens vier Stunden nach HIV-Exposition und nicht später als 48 Stunden danach eingeleitet werden. Mittel der Wahl bei der PEP sind TDF/FTC (alternativ ZDV/3TC) plus LPV/r oder SQV/r in Standarddosierung zweimal täglich für vier Wochen. Die Indikation zur PEP sollte innerhalb von 48-72 Stunden von einem HIV-Experten überprüft werden. In dieser Zeit sollte ein HIV-, HBV-, HCV- und ggf. ein Schwangerschaftstest durchgeführt werden. Nach einem Monat sollten Syphilis-Serologie, Leber-Transaminasen und ggf. die HCV-Serologie/PCR bestimmt werden sowie zwei und vier Monate später nochmals die HIV-Serologie.
ANMERKUNGEN
Nicht nur die Erwähnung der PEP in den europäischen Guidelines ist neu; neu ist auch die Verkürzung des Zeitfensters auf 48 Stunden, wohingegen man in älteren Empfehlungen anderer Fachgesellschaften ein Zeitfenster von 72 Stunden findet. Möglicherweise haben sich hier der bessere Zugang zur PEP und der Wunsch nach einer frühen Einleitung der PEP niedergeschlagen. Ob eine PEP zwischen 48 und 72 Stunden signifikant weniger wirksam ist, ist nicht gesichert. Bei der HAART wurde der verbesserten Verträglichkeit Rechnung getragen. Warum f-APV/r nicht zu den empfohlenen Substanzen gehört, ist unklar
Für die Autoren:
Dr. Nils Postel
Arthur-Kutscher-Platz 4 · 80802 München
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