Kommentar von Prof. Matthias Stoll, Hannover
Turning
The Tide
Zero Transmission – Zero
AIDS – Zero Discrimination
Die Anreise bot Muße zur Lektüre zahlreicher Pressemeldungen: „Größte Dürre in den USA seit 80 Jahren“. „Meteorologische Prognose: Dürre in den USA wird noch bis Dezember 2012 anhalten.“ Mich beschlich ein schlechtes Gewissen, dass ich mich bis dahin auf 32°C gefreut hatte und Ehrfurcht vor dieser Nation, die präzise Wettervorhersagen für ein halbes Jahr auch uns Europäern zugänglich macht, die wir in unserer alten Welt bis heute damit leben müssen, dass schon die Vorhersage für den Folgetag oft nicht stimmt.
Die Landung von Flug LH 418 in Washington war turbulent: Es herrschten heftige Gewitter und für einen weiteren halben Tag ergiebige, teilweise sintflutartige Regenfälle in Washington. Eine gute Einstimmung auf das Kongressmotto „Turning the tide“ – Gezeitenwechsel.
Aufbruchstimmung ...
AIDS 2012 – Die internationale AIDS-Konferenz in Washington verspricht neue Aufbruchstimmung. „Cure” – also Heilung – war das immer wieder genannte Zauberwort, das schon bei der Eröffnung die Teilnehmer auf das einstimmte, was eigentlich erst in den folgenden Tagen noch präsentiert werden musste. Kein geringerer als Anthony Fauci fasste die hohen Erwartungen semantisch in wissenschaftlich untadeliger Weise und rhetorisch geschliffen zusammen: „Ending the HIV/AIDS pandemic is an enormous and multifaceted challenge, but we now know it can be done. Global scale-up of existing and scientific evidence-based interventions could … ultimately lead to the end of AIDS“. Prominente Vertreter aus der US-amerikanischen Politik proklamierten den in Aussicht gestellten Sieg über das HI-Virus dann als (a) als Resultat der beispiellosen bisherigen Leistungen – vor allem der USA – und im übrigen (b) den Sieg als eigentlich bereits errungen.
... ohne wissenschaftliche Grundlage
Wer nun hoffte, dass der Kongress neue Daten bot, die Evidenz für den so skizzierten Gezeitenwechsel lieferten, wurde enttäuscht. Die Hoffnung beruhte im Wesentlichen auf der nunmehr ein Jahr längeren Beobachtung eines Einzelfalls, des Stammzelltransplantierten „Berlin-Patienten“, der jetzt so lange ohne HIV-Replikation ist, dass statistisch von Heilung gesprochen werden kann. (Die Evidenz dafür ist ungefähr so einleuchtend, wie für den Schluss, dass mit seinem nunmehr auch längeren Langzeitüberleben von einer auch künftig fortbestehenden Unsterblichkeit ausgegangen werden darf.)
Ansonsten beruhte der neue Optimismus auf einer optimistischeren Interpretation schon bekannter Fortschritte:
- Funktionelle Heilung, weil …
- … es kaum noch Fälle von HIV-Infizierten gibt, bei denen die anhaltende Kontrolle der Virusreplikation nicht gelingt.
- … Progression zu AIDS und Tod wirksam verzögert und verhindert werden können.
- Rückgang der Infektionsraten, weil ...
- … die in den IAS- und DHHS-Guidelines inzwischen empfohlene antiretrovirale Behandlung aller HIV-Infizierten mit Virusreplikation in einer Population auch dann zu wirksamer Senkung der Infektionsraten führt, wenn man, wie ansatzweise im Modell USA seit Jahren geübt, auf andere Formen der Primärprävention ganz oder teilweise verzichtet (hat).
Risiken außer Acht gelassen
Es ist also ein bisschen wie die Verkündung des endgültigen Sieges im Krieg, während man gerade zu einem neuen, noch entschlosseneren Waffengang bläst. Vermutlich bestehen zu Recht keine Zweifel, dass der Krieg einer gerechten Sache, nämlich dem Ende der HIV-Pandemie dient. Aber die möglichen Kollateralschäden der gut gemeinten Strategie sind – nicht nur wissenschaftlich betrachtet – noch nicht abzusehen. Die einzige strategische Studie (START) zur vermeintlich schon entschiedenen Frage des „When to start?“ rekrutiert noch. Gibt es wirklich keine Langzeitrisiken mehr, so dass es schon jetzt auf der Konferenz Forderungen gab, nur noch alle 12-18 Monate ein nur noch reduziertes Labor-Screening, im wesentlichen bestehend aus der Plasmavirämie durchzuführen? Wenn denn HIV jetzt nicht mehr übertragbar ist: Wird dann künftig derjenige, der sich wider alle Mainstream-Erwartung trotzdem neu infiziert, irgendwie „selbst“ schuld sein?
Es war Elton John – somit ein Europäer – der in einer Abfolge selbstzufriedener und zurücklehnender Statements dazu gemahnte, dass die Bewältigung der real noch ungelösten Probleme den Kongressort Washington DC nicht aussparen sollte: Eine der Städte in den USA mit der höchsten HIV-Prävalenz – und auch dort besonders im Brennpunkt: Menschen mit sozial schwieriger Versorgungssituation.
Auch bei „Turning the Tide“ sollte sich somit jeder an die eigene Stirn fassen: Die US-Amerikaner, für die eine Phase sonnigen Wetters mit heftigen Regenschauern die längste Dürreperiode der Geschichte ist, genauso wie die Europäer, die eine gleichartige Situation als verregneten Sommer mit katastrophalen Folgen für den heimischen Tourismus empfinden würden.