Matthäus Lottes, Daniel Schmidt, Christian Kollan, Berlin
Wie viel Generikaquote verträgt die HIV-Behandlung?
Allgemeinhin besteht Konsens, dass der Einsatz von Generika mit direkten Kosteneinsparungen verbunden ist. Dieser Umstand findet u.a. in regionalen Wirkstoffvereinbarungen der Kassenärztlichen Vereinigungen seinen Niederschlag, in denen generische Quotenziele über Tagesdosen gesteuert werden sollen.
Bestandsaufnahme
Vor diesem Hintergrund haben wir für das 1. Quartal 2019 eine Bestandsaufnahme nach Tagesdosen und generischem Anteil vorgenommen. Hierzu wurden Daten aller gesetzlich Versicherten aus Apothekenabrechnungszentren verwendet, die von der Firma Insight Health bezogen werden.
Einteilung nach ATC
Die Aufschlüsselung der HIV-Medikamente beruht auf der Einteilung der Anatomisch-Therapeutisch-Chemischen (ATC)-Klassifikation der WHO, die im Bereich der vergleichenden Arzneimittelforschung häufig Verwendung findet (Tab. 1). Die ATC-Hauptgruppe J05A (direkt wirkende antivirale Stoffe) enthält mit den Subgruppen AE, AF, AG, AR, AX die Wirkstoffe für die Behandlung der HIV-Infektion. Dabei entsprechen die ATC-Gruppen den gemeinhin bekannten Substanzklassen Protease-Inhibitoren (PI), nukleo(s)(t)idsche Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NRTI), nicht-nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NNRTI) und Integrase-Inhibitoren (INSTI). Die Subgruppe AR enthält Fixkombinationen mit mehr als einer Substanz, darunter Lopinavir/Ritonavir, Tenofovirdisoproxil/Emtricitabin, Abacavir/Lamivudin sowie alle so genannten Single-Tablet-Regimen (STR). Des Weiteren ist zu beachten, dass die Subgruppe AF auch alle NRTI gegen Hepatitis B beinhaltet und die Subgruppe AX Substanzen gegen weitere Virus- Erkrankungen. Niedrig dosierte und in der HIV-Therapie additiv eingesetzte „Booster“ wurden zu einer eigenen Kategorie zusammengefasst, u.a. auch, weil die Substanz Cobicistat einer anderen ATC-Gruppe, nämlich der V03A, angehört.
Tab. 1 HIV-Medikamente nach ATC-Klassifikation, bestehender Generikasituation, Tagesdosen und Anteilen abgegebener Originale und Generika für das 1. Quartal 2019
Alle Gruppen wurden weiter unterteilt, in Patentschutz, kein Patentschutz, aber keine Generika und Substanzen, die generisch und als Altoriginal zur Verfügung stehen. Zusätzlich sind die abgegebenen Tagesdosen der Substanzen nach Original und Generikum aufgeteilt sowie die entsprechenden relativen Anteile aufgeführt.
Tagesdosen
Die Tagesdosen wurden anhand der Pharmazentralnummer (PZN) der verordneten Medikamente und der darin verfügbaren Dosis ermittelt. Nicht berücksichtigt wurden Medikamente, denen keine Tagesdosis zugeordnet werden konnte. Das waren wenige Verordnungen, meist in flüssiger Formulierung. Die Tagesdosen für die „Booster“ wurden durch Auszählung der Tagesdosen der zu „boosternden“ Proteaseinhibitoren ermittelt, da hier Tagesdosen mit einer, zwei oder vier Tabletten möglich sind.
TDF gegen HIV und HBV
Das in der Subgruppe AF enthaltene Tenofovirdisoproxil wird in der HIV- und Hepatitis-B-Therapie eingesetzt. Zur Ermittlung, wie viele Tagesdosen Tenofovirdisoproxil zur Hepatitis B gehören, haben wir so viele Tagesdosen in unsere Betrachtung mit einbezogen wie Kombinationspartner aus den Substanzen Lamivudin und Emtricitabin nach Abzug deren möglichen Kombinationspartner Zidovudin und Abacavir, zur Verfügung standen. Es ist bekannt, dass Tenofovirdisoproxil vereinzelt auch anderen Partnern zugeordnet wird. In den Daten der ClinSurv-Kohorte sehen wir aber, dass deren Anzahl aktuell sehr gering ist. Somit fanden 96% des Tenofovirdisoproxils, das als Hepatitis-B-Therapie gewertet wurde, keine Berücksichtigung in unserer Auswertung der HIV-Medikation.
Gesamter Generikaanteil 21%
Von insgesamt ca. 7,15 Mio. Tagesdosen wurden ca. 1,48 Mio. generisch über die Apotheken abgegeben, was einer Quote von 21% entspricht. Der höchste Anteil wird in den Gruppen der Generika-fähigen NRTI (82%) und NNRTI (86%) beobachtet. Hier sollte allerdings beachtet werden, dass beide Gruppen zusammen mit ungefähr 0,48 Mio. Tagesdosen keine 8% am Gesamtverbrauch ausmachen.
Mit annähernd doppelter Menge (0,88 Mio.) fallen die generischen Kombipräparate stärker ins Gewicht. Dabei handelt es sich um das einzige generische Single-Tablet-Regimen aus Tenofovirdisoproxil, Emtricitabin und Efavirenz sowie die drei klassischen dualen Nukleo(s)(t)id-Backbones Zidovudin/Lamivudin, Abacavir/Lamivudin und Tenofovirdisoproxil/Emtricitabin. Diese erreichen Generikaquoten von jeweils knapp 90%. Letztere ist hier zahlenmäßig stärkster Vertreter. Ebenfalls hohe Generikaquoten erreichen die NNRTI Nevirapin und Efavirenz mit je 85% und 92%. Diese machen mit 0,43 Mio. Tagesdosen allerdings auch nur 6% am Gesamtverbrauch aus.
Im Vergleich dazu sind die 0,06 Mio. generischen Tagesdosen in der Gruppe der Protease-Inhibitoren gering. Allerdings sollte bedacht werden, dass es sich hierbei ausschließlich um die derzeit in dieser Gruppe am häufigsten verwendete Substanz Darunavir handelt, bei der Generika erst im März in den Markt eingetreten sind, diese aber dennoch schon 18% erreichen. In der Gruppe des generischen Boosters Ritonavir dominieren mit 87% die Altoriginale.
Maximaler Anteil
Zur Ermittlung einer nach derzeitiger Generikasituation theoretisch möglichen Maximalquote an Generika haben wir alle Altoriginale durch Generika ersetzt und kommen so auf einen maximalen Anteil von 34%.
Wir gehen davon aus, dass die sich darstellende Verschreibungsrealität von 21% in den meisten Fällen aus den für die Altoriginale bestehenden Rabattverträgen ergibt und diese daher in der Apotheke vorrangig abgegeben werden müssen.
Fazit und Ausblick
Derzeit liegt die Generikaquote bei der HIV-Medikation knapp über 20%. Durch den Eintritt des generischen Darunavir in den Markt darf kurzfristig eine weitere Zunahme auf ca. 25% erwartet werden. Bei bestehender Generikasituation werden bei den meisten Substanzen bereits Quoten von 80-90% erreicht. Mehr als ein Drittel Generikaquote ist bei Beibehaltung der aktuellen Zusammensetzung der gesamten HIV-Therapie unrealistisch. Sollten anderenorts höhere Quoten ausgewiesen werden, beruhen diese unseres Erachtens auf einer mangelhaften Unterscheidung zwischen Substanzen, die gegen HIV und andere Viruserkrankungen z.B. Hepatitis B eingesetzt werden. Insgesamt kommen wir zu dem Schluss, dass höhere als von uns skizzierte Generikaquoten wohl nur unter Verzicht auf aktuelle und zukünftige innovative Therapien sowie damit einhergehender Erhöhung der Tablettenanzahl erreicht werden könnten.
Zudem sollte beachtet werden, dass der Anteil bestimmter Tagesdosen, insbesondere im HIV-Bereich, nicht deren jeweiliges monetäres Gewicht an den Gesamttherapiekosten widerspiegelt. So liegt der Preis eines Kombipräparates beim Zwanzigfachen eines „Boosters”. Und deshalb ist Tagesdosis in diesem Sinne nicht gleich Tagesdosis.