Christian Hoffmann, Hamburg
Wo ist heute der Platz für Nicht-Nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NNRTIs)?
In den letzten Jahren ist der Anteil INSTI-basierter Therapien stetig gewachsen. Vor dem Hintergrund der Diskussionen um Gewichtszunahme und ZNS-Nebenwirkungen dieser Substanzgruppe erscheint es jedoch ratsam, andere antiretrovirale Medikamente nicht aus dem Auge zu verlieren. Über Proteasehemmer wurde bereits berichtet. Diesmal soll es um die einzelnen NNRTIs gehen und um die Frage, wo (nach der subjektiven Meinung des Autors) heutzutage noch ihr Platz ist.
Die Erstgenerations-NNRTIs Nevirapin, Delavirdin (nicht in Europa zugelassen) und Efavirenz kamen in den Jahren 1996-1999 auf den Markt. Mit Etravirin 2008 und Rilpivirin 2011 folgten weitere und vor wenigen Monaten mit Doravirin der vorerst letzte Vertreter dieser Substanzgruppe. Zielenzym der NNRTIs ist wie bei den NRTIs die Reverse Transkriptase (RT). NNRTIs sind jedoch keine „falschen“ Bausteine; sie binden vielmehr direkt und nicht-kompetitiv an die RT in einem Bereich, der nahe an der Substratbindungsstelle für Nukleoside liegt. NNRTIs müssen im Gegensatz zu den NRTIs nicht erst in der Zelle aktiviert werden. Durch die Bindung werden konformationelle Änderungen der RT verursacht, die die Polymerisation verlangsamen und die Virusreplikation hemmen. Virale Resistenzmutationen entstehen relativ schnell. Wenn in der Bindungstasche für die NNRTIs einzelne Aminosäuren ausgetauscht werden, wird die Bindung der NNRTIs an die RT gehemmt.
Die Schwächen der bisherigen NNRTIs
Abb. 1 NNRTIs (und ihre Nachteile)
In einer Metaanalyse waren NNRTIs insgesamt so effektiv wie PIs (Borges 2016). Allerdings ist virologisches Versagen mit Resistenzentwicklung häufiger. Angesichts von Raten, die bei therapienaiven Patienten mit 2-6% deutlich höher liegen als bei PIs und INSTIs, haben einige Leitlinien wie die der amerikanischen DHSS die NNRTIs komplett aus der Primärtherapie entfernt. Neben Resistenzentwicklung gibt es weitere Nachteile, u.a. hinsichtlich Verträglichkeit und Einnahme (siehe Abb. 1). Bei virologischem Versagen sollten NNRTIs rasch abgesetzt werden, um nicht weitere Mutationen zu genieren; die Replikationsfähigkeit von HIV wird durch NNRTI-Mutationen nicht beeinträchtigt, anders als bei einigen PI- oder NRTI-Mutationen. In Europa liegt die Rate übertragener NNRTI-Resistenzen recht stabil bei 4-5%, weshalb vor Therapiebeginn ein Resistenztest vorliegen sollte. Alle NNRTIs werden durch das Cytochrom P450-System metabolisiert (Usach 2013). Obwohl nicht so stark wie bei PIs, ist mit einigen Interaktionen zu rechnen.
Nevirapin
Nevirapin,
das gute alte Viramune®.
Von Boehringer-Ingelheim entwickelt, seit Juni 1996 (!) auf dem
Markt, längst generisch, hat dieser NNRTI vor allem in den ersten
Wochen einer Therapie diverse Probleme, man denke nur an das
umständliche Einschleichen, die schweren, nicht vorhersehbaren
Allergien und die mitunter schwere Hepatotoxizität mit
Leberversagen, vor allem bei Frauen und hohen CD4-Zellen. Von der
niedrigen Resistenzbarriere zu schweigen: In ARTEN entwickelten
23/376 (6,1%) therapienaiven Patienten eine Zweiklassen-Resistenz,
dagegen kein einziger
Patient unter Atazanavir (Soriano 2011).
Klar ist: Kein Patient sollte neu auf Nevirapin gesetzt werden.
Andererseits: Wir haben immer noch Patienten, die seit über 20
Jahren stabil und zufrieden mit Nevirapin sind. Das Lipidprofil ist
günstig, ein Fortführen vertretbar. Keine Studie hat gezeigt, dass
bei diesen Patienten mit einem Wechsel zum Beispiel auf INSTIs
irgendetwas besser wird.
Efavirenz
Lange
Zeit Vergleichssubstanz in unzähligen Studien und Bestandteil des
ersten STRs Atripla®,
wird Efavirenz heute nur noch selten eingesetzt. Wichtigstes Problem
sind die typischen ZNS-Störungen. In einer Studie berichteten nach
vier Wochen 66% der Patienten über Schwindel, 48% über abnormale
Träume, 37% über Benommenheit und 35% über Schlafstörungen (Fumaz
2002). Mitunter merken die Patienten erst nach Absetzen, was unter
Efavirenz anders war. Weitere Probleme sind eine Gynäkomastie,
negative Auswirkungen auf die Lipide und eine immer wieder
diskutierte Teratogenität. Efavirenz sollte deshalb heute ersetzt
werden, es sei denn, der Patient wünscht die Fortführung. Nach
Nebenwirkungen fragen! Eine Dosisreduktion auf 400 mg, die in einer
randomisierten Studie die Verträglichkeit verbesserte (ENCORE 2015),
hat sich nicht durchgesetzt. Die generisch verfügbaren
STRs
(Padviram®)
sind zwar billiger als Atripla®,
im Vergleich zu den Einzelsubstanzen Efavirenz und TDF/FTC aber
unverhältnismäßig teuer.
Etravirin
Intelence® war 2008 der erste Zweitgenerations-NNRTI. Es wirkt gut gegen klassische NNRTI-Resistenzmutationen. Die Resistenz-Barriere ist höher, da Etravirin durch Konformationsänderungen flexibler an die RT binden kann. Zur Zulassung führten zwei Phase III-Studien (DUET-1/2), in denen Etravirin kombiniert mit Darunavir/r bei Patienten mit Therapieversagen und Resistenzen sehr erfolgreich war (Lazzarin 2007, Madruga 2007). Die Zulassung beschränkt sich deshalb auf vorbehandelte Patienten mit geboosterten PI-Regimen. Ein Nachteil bleibt, dass Etravirin zweimal täglich gegeben werden muss. Wahrscheinlich funktioniert auch die Einmalgabe (Fätkenheuer 2012), sie ist jedoch nicht zugelassen. Bei der Kombination mit Darunavir sollte dieses mit Ritonavir und nicht mit Cobicistat kombiniert werden, da mit Etravirin die Darunavir/c-Spiegel deutlich abfallen (Moltó 2017). Fazit: Nischenpräparat, in bestimmten Resistenzsituationen kann es hilfreich sein.
Rilpivirin
Rilpivirin (Edurant®, in Eviplera®, Odefsey® sowie Juluca®) wurde im November 2011 zugelassen. Es wirkt wie Etravirin gegen NNRTI-Resistenzen wie K103N oder G190A, hat jedoch eine längere Halbwertszeit von 40 Stunden. In Phase III-Studien (ECHO, THRIVE, STaR) zeigte sich eine mit Efavirenz vergleichbare Wirksamkeit – bei besserer Verträglichkeit. Resistenzen wurden allerdings häufiger beobachtet, vor allem bei hochvirämischen Patienten (Rimsky 2012). Die Zulassung ist daher auf Patienten mit einer Viruslast von unter 100.000 Kopien/ml beschränkt. Bei vorbehandelten Patienten sind präexistente Resistenzen zu beachten, es kommt andernfalls häufig zu Durchbrüchen (Armenia 2017). Das meist verwendete Präparat ist derzeit Odefsey®, die fixe Kombination aus TAF+FTC und Rilpivirin. Nachteil im klinischen Alltag ist, dass nur die gleichzeitige Nahrungsaufnahme eine ausreichende Resorption sicherstellt. Ein kalorienreiches Getränk reicht nicht, es muss eine Mahlzeit sein (Crauwels 2013). Bei unregelmäßiger Lebensführung oder Diäten kann dies durchaus Probleme bereiten. Rilpivirin ist daher nicht für Patienten mit Adhärenzproblemen geeignet. Mit Juluca® kam in 2018 die erste NRTI-freie Kombination aus Rilpivirin und dem INSTI Dolutegravir auf den Markt. Sie ist allerdings nur für erfolgreich vorbehandelte Patienten zugelassen, auch hier ist eine gleichzeitige Nahrungsaufnahme erforderlich.
Doravirin
Die drei für die Primärtherapie zugelassenen NNRTI-STRs (für Atripla® gibt es Generika)
Angesichts der genannten Schwächen der bis 2018 zugelassenen NNRTIs (siehe Abb. 1) bestand ein echter Bedarf für einen robusten, gut verträglichen NNRTI. Doravirin (Pifeltro®, auch in Delstrigo®) scheint dies zu sein. Die Substanz ist gegen Wildtyp-Viren und einige NNRTI-resistente Mutanten wirksam, gut verträglich; die Einmalgabe reicht, unabhängig von der Nahrungsaufnahme (Behm 2016). Möglicherweise ist die Resistenzbarriere höher als für Rilpivirin oder Efavirenz (Feng 2016).
Zwei
doppelblind randomisierte Phase III-Studien an therapienaiven
Patienten führten zur Zulassung. In DRIVE-
FORWARD hielt
Doravirin nicht nur dem Vergleich mit Darunavir/r stand, sondern
überraschte mit einem guten Ansprechen auch bei hochvirämischen
Patienten und einer für einen NNRTI sehr niedrigen Resistenzrate.
Die Verträglichkeit war gut, Diarrhoen seltener, das Lipidprofil
günstiger als unter Darunavir/r (Molina 2018). In DRIVE-AHEAD war
Delstrigo®,
die Fixkombination aus Doravirin/TDF/3TC, gegenüber Atripla®
nicht-unterlegen und wurde besser vertragen. Auch in dieser Studie
traten nur sehr wenige Resistenzen auf (Orkin 2018), wie auch in
DRIVE-SHIFT, in der vorbehandelte Patienten auf Delstrigo®
wechselten (Johnson 2019).
Das Interaktionspotential ist gering. Die gleichzeitige Gabe von Rifabutin und anderen starken CYP3A-Induktoren dürfte allerdings die Doravirin-Spiegel senken, die Dosis sollte dann ggf. erhöht werden; PPIs sind dagegen kein Problem (Khalilieh 2019). Doravirin kann auch bei schwerer Niereninsuffizienz gegeben werden, selbst bei einer GFR von unter 30 (Ankrom 2018). Im Zeitalter von STRs wird die Einzelsubstanz Pifeltro® vermutlich eine geringere Rolle spielen als Delstrigo®. Dessen Erfolg dürfte maßgeblich von der Frage abhängen, als wie relevant die Behandler letztlich den Unterschied zwischen TDF und TAF bewerten.
Fazit:
In dem Wissen, dass auch die INSTIs nicht ohne Nebenwirkungen sind, bleiben die NNRTIs eine wichtige Komponente der ART – weniger in der Primär- als vielmehr in der Erhaltungs- bzw. Dauertherapie. Es bestehen mittlerweile Erfahrungen über Jahrzehnte. Funktionierende Regime mit alten NNRTIs können durchaus fortgeführt werden, allerdings sollten Patienten aktiv auf Probleme hin befragt werden (Wirklich keine zentralnervösen Nebenwirkungen unter Efavirenz? Nahrungsaufnahme bei Rilpivirin gewährleistet?). Mit Doravirin ist nun seit Anfang des Jahres eine Substanz verfügbar, der die Schwächen der anderen Vertreter dieser Gruppe abgehen. Es ist als STR freilich nur mit TDF und nicht mit TAF verfügbar. Es wäre sehr zu wünschen, wenn sich MSD doch noch dazu entschließen könnte, Doravirin direkt gegen einen INSTI zu testen, um das volle Potential dieses NNRTIs zu ermitteln.
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