Deutsche Aidshilfe
Deutsche AIDS-Hilfe Logo„Wir haben das Thema aus dem Tabu-Bereich herausgeholt“

Die Charité und die Deutsche Aidshilfe haben in Georgien und Belarus Hilfsangebote für drogenabhängige schwangere Frauen und ihre Kinder ins Leben gerufen – Leuchtturmprojekte für die gesamte Region.

Ludger Schmidt
Ludger Schmidt

Dr. Jan-Peter Siedentopf
Dr. Jan-Peter Siedentopf

In Osteuropa und Zentralasien steigt die Zahl der HIV-Neuinfektionen. Besonders vulnerabel sind drogenabhängige schwangere Frauen und ihre Kinder. Die Charité – Universitätsmedizin Berlin und die Deutsche Aidshilfe haben ein Hilfsangebot in Georgien auf die Beine gestellt. Ein weiteres startet nun in Belarus. Die Projektleiter Dr. Jan-Peter Siedentopf und Ludger Schmidt berichten von Herausforderungen und Erfolgen.

Warum bedürfen gerade Drogen konsumierende Schwangere besonderer Hilfe?

Schmidt: Zum einen geht es natürlich um HIV: Eine rechtzeitige Diagnose und Therapie erhält die Gesundheit der Mutter und verhindert die Übertragung von HIV auf das Kind.

Siedentopf: Opiatabhängige Schwangere und ihre Kinder sind zugleich weiteren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Ein Opiatentzug kann zum Beispiel vielfältige Auswirkungen haben: von Entzugssymptomen bei Müttern und Kindern bis hin zu Frühgeburten. Schwankende Substanzspiegel verursachen den Kindern Stress und wirken sich auf das Wachstum aus. Opiate beeinflussen die Gehirnfunktion und können die Anfälligkeit für Sucht lebenslang erhöhen. Und nach der Geburt haben die Kinder Entzugssymptome. Das ist eine lebensbedrohliche Erkrankung, die adäquat
behandelt werden muss.

Welche Hürden gibt es für die Behandlung in Georgien?

Siedentopf: In Georgien ist nicht nur der Besitz, sondern auch der Konsum von Suchtmitteln strafbar. Konsumierende können keine Hilfe in Anspruch nehmen, ohne eine Meldung an die Polizei und Bestrafung zu riskieren. Damit steigt das Risiko, dass Drogenkonsum verheimlicht wird.

PROBLEM STIGMA

Welche Strafen drohen den Frauen?

Schmidt: Nicht nur Kriminalisierung, auch Stigmatisierung ist ein großes Problem. Drogenabhängigkeit führt oft dazu, dass Frauen aus der Familie verstoßen werden – in einem Land, in dem Menschen sich sehr stark über ihre Familie definieren.

Warum sind die Reaktionen so harsch?

Schmidt: Repression und Druck sollen eine Veränderung zum Guten bewirken. Tatsächlich ist dieses Vorgehen aber kontraproduktiv. Ein Hilfesystem wie in Deutschland ist dort allenfalls in Ansätzen existent.

Wie haben Sie den hiesigen Ansatz dort konkret eingebracht?

Siedentopf: Schon vor einiger Zeit haben wir aus unserer Erfahrung hier in der Ambulanz eine Broschüre zum Thema Sucht und Schwangerschaft entwickelt. Die haben wir mit Fachleuten vor Ort an die georgischen Bedürfnisse und Realitäten angepasst.

Schmidt: Diese Arbeit war aufwändig. Nicht nur rechtlich und kulturell gibt es viele Unterschiede, sondern auch in der Medizin und der Selbsthilfe. So wird zum Beispiel zwischen gynäkologischen und suchtmedizinischen Problemen oft strikt getrennt. In diesem Fall aber müssen alle zusammenarbeiten. Und dann kommen noch die psychosozialen Aspekte hinzu.

SELBSTHILFE ALS SCHLÜSSEL

Einsendetest startet erfolgreich

S.A.M.Das Pilotprojekt „S.A.M Mein Heimtest“ in Bayern senkt Hemmschwellen, spricht neue Zielgruppen an und ermöglicht so mehr frühe Diagnosen. Diese Zwischenbilanz ziehen nach einem dreiviertel Jahr die Münchner Aids-Hilfe, die Deutsche Aidshilfe, ViiV Healthcare und das Hamburger Labor Lademannbogen, die das Angebot gemeinsam entwickelt haben.

Rund 300 Nutzer_innen haben sich bisher angemeldet. Junge Menschen unter 35 Jahren machen einen Anteil von 55% aus, Männer, die Sex mit Männern haben (MSM) 56%. 34% leben in strukturschwachen Gebieten und kleineren Städten. 51% der Nutzer_innen haben zuvor nie oder nur sehr unregelmäßig Tests gemacht. 80% blieben dem Angebot treu und beziehen den Test nun im Abonnement. Die Diagnoseraten sind hoch: HIV 2,2%, Chlamydien 6,8%, Gonorrhoe 4,3%, Syphilis 1,8%.

Bei S.A.M melden sich Interessierte online an. Nach einem Erstgespräch in einer Teststelle können sie für je
32 Euro das Testkit zukünftig regelmäßig zugesandt bekommen. Blut- und Urinproben sowie Abstriche werden selbst entnommen und ins Labor gesendet. Wird keine Infektion festgestellt, kommt das Ergebnis per SMS, andernfalls eine Bitte um Rückruf.

In Bayern wird „S.A.M Mein Heimtest“ nach dem Ende der Pilotphase nun fortgesetzt. Die S.A.M-Partner arbeiten an einer Ausweitung auf andere Regionen in Deutschland.

www.samtest.de

Wie haben sie alle Beteiligten zusammengeführt?

Schmidt: Die Frauenorganisation Aceso International for Women hat ihre Kontakte dafür genutzt. Sie war der Schlüssel. Und das ist der eigentliche Erfolg des ganzen Projektes: dass dieses Thema aus dem Tabubereich herausgeholt wurde.

Sie haben dann Fachpersonal geschult. Wie lief das ab?

Schmidt: Bei den Schulungen war immer etwa ein Dutzend Menschen aus unterschiedlichen medizinischen Professionen und Vertreterinnen der Selbsthilfe gemeinsam präsent.

Siedentopf: Wir haben Erfahrungen und Vorgehensweisen besprochen, etwa wie man die Situation von Betroffenen sensibel erfragt oder das Thema Schweigepflicht. Die Sensibilität dafür ist in Georgien nicht so ausgeprägt wie hier. Patientinnen haben oft die Sorge, dass Gerüchte über ihre Erkrankung entstehen. Sie nehmen deshalb keine medizinische Hilfe in Anspruch oder sagen nichts.

INTERDISZIPLINÄRE LÖSUNGEN

Was war das Ziel dieser Schulungen?

Schmidt: Eine Art Kompetenzteam aufzubauen mit der Selbsthilfe als festem Teil, um Zugang zu betroffenen Frauen zu bekommen und sie schnell weitervermitteln zu können.

Siedentopf: Wir haben damit auch eine direkte Vernetzung unter den Ärzt_innen angestoßen. Wenn eine süchtige Schwangere eine Frauenklinik aufsucht, dann soll sie auch in der suchtmedizinischen Abteilung vorgestellt werden, und umgekehrt. Damit wird die Frage des Vertrauens zentral. Oft ist es einfacher, wenn eine Selbsthilfeorganisation mit an Bord ist.

Wie hat sich das Programm in Georgien ausgewirkt?

Schmidt: Es gab ganz konkrete Hilfe für viele Frauen. Die Zahl der Substituierten ist gestiegen. Vor allem aber ist das medizinische System offener geworden. Gewachsen ist die Bereitschaft, die Probleme pragmatisch anzugehen, und das Bewusstsein, dass sich manche medizinischen Probleme nur lösen lassen, wenn Selbsthilfe und Community einbezogen werden.

Ein ähnliches Programm startet nun in Belarus. Was ist dort geplant?

Siedentopf: Die Broschüre liegt bereits auf Russisch vor und wir haben unsere Erkenntnisse im belarussischen Ärzteblatt veröffentlicht.

Schmidt: Unser Hauptpartner ist auch in Belarus eine Frauenselbsthilfeorganisation. Dort arbeiten wir aber stärker als in Georgien mit staatlichen Stellen zusammen. Das Projekt ist über die Stadt Minsk an die „Fast Track City“-Initiative von UNAIDS angegliedert. Die Multiplikator_innen werden vom Gesundheitsministerium benannt. Hier werden nicht nur individuelle Ärzt_innen involviert sein, sondern auch Kliniken.

TÜRÖFFNER FÜR ANDERE GRUPPEN

Welche Wirkung entfalten solche Projekte für den Umgang mit HIV in Osteuropa allgemein?

Schmidt: Man muss sich klarmachen: Die Infektionszahlen steigen dort vor allem wegen der Stigmatisierung der besonders betroffenen Gruppen. Ein Projekt zum Thema Mutterschaft erleichtert den Zugang zu staatlichen Stellen, insbesondere im medizinischen Bereich. Man kann damit sichtbar machen, dass es pragmatischer Lösungen bedarf – eben auch für andere Gruppen.

Siedentopf: Auch in Deutschland wurden Substitutionsbehandlungen anfangs damit begründet, die Risiken für Kinder während der Schwangerschaft zu reduzieren. Heute sind diese Therapien Standard. Genau dieser Zugang funktioniert auch in Ländern, in denen es bis heute keine Substitutionsbehandlung gibt.

Wie könnte die internationale Zusammenarbeit weiter gestärkt werden?

Schmidt: Die deutsche Entwicklungshilfe müsste sich viel stärker in der HIV-Prävention engagieren, gerade in Osteuropa. Die jahrzehntelange Erfahrung der deutschen Zivilgesellschaft in der HIV-Prävention sollte produktiv genutzt werden. Es ist schwer nachvollziehbar, warum dies so selten erfolgt.

Dr. Jan-Peter Siedentopf ist Oberarzt an der Klinik für Geburtsmedizin am Campus Virchow-Klinikum der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Er leitet die Ambulanz für Suchterkrankungen und Infektionen in der Schwangerschaft. jan-peter.siedentopf@charite.de

Ludger Schmidt ist Referent für Internationales bei der Deutschen Aidshilfe. Sein Schwerpunkt sind Präventionsprojekte in Osteuropa und Zentralasien. ludger.schmidt@dah.aidshilfe.de

Das Präventionsprojekt in Georgien wurde durch die Aktion Mensch finanziell unterstützt. Das Bundesgesundheitsministerium unterstützte die Vorbereitung des Projekts in Belarus.


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