DAGNAE
HIV-Versorgung in Gefahr?
Die medizinische Versorgung von Menschen mit HIV könnte in Deutschland langfristig in Gefahr sein. Dies legt eine Umfrage unter niedergelassenen HIV-Mediziner:innen nahe. Die dagnä hatte ihre Mitglieder um eine Einschätzung ihrer aktuellen und künftigen Lage gebeten, 130 Kolleg:innen aus insgesamt 14 Bundesländern beteiligten sich. 49% der Befragten gaben an, über 55 Jahre alt zu sein und damit in zehn bis 15 Jahren aus der Versorgung auszuscheiden – meist ohne dass Nachfolger:innen in Sicht seien. Mit der Schließung vieler HIV-Schwerpunktpraxen wären demnach Versorgungslücken unausweichlich: Fast 80% der Befragten befürchten, dass der Ärzte- und Fachkräftemangel zu einem Rückgang der HIV Versorgungsstrukturen führen wird.
Situation auf dem Land besonders schwierig
Dr. Heiko Karcher, Berlin dagnä-Vorstandsmitglied
„Wir müssen damit rechnen, dass es in zehn Jahren deutlich weniger HIV-Schwerpunktpraxen gibt als heute, mit den entsprechenden Folgen für die Versorgung unserer Patient:innen“, sagt dagnä-Vorstandsmitglied Dr. Heiko Karcher, der in Berlin selbst eine Schwerpunktpraxis mitbetreibt. „Viele Kolleginnen und Kollegen berichten, dass sie Schwierigkeiten haben, ihre Praxen im Alter zu verkaufen – und das wird in Zukunft nur schlimmer.“ Besonders außerhalb der Großstädte könnte es so bald ganze Landstriche ohne eine einzige HIV-Praxis geben.
Der Fachkräftemangel ist laut Karcher ein Problem für die ambulante Versorgung allgemein – doch besonders sei, dass gerade junge HIV-Mediziner:innen so zurückhaltend seien, eine Praxis zu übernehmen. „Viele sind unsicher, ob die ambulante HIV-Versorgung in Zukunft noch in ihrer heutigen Qualität angeboten werden kann“, sagt Karcher. Immer wieder müsse um die Finanzierung wichtiger Leistungen gekämpft werden – viele fragten sich, ob man es sich in zehn Jahren noch leisten könne, etwa eine PrEP-Prophylaxe anzubieten. „Die jungen Mediziner:innen wollen wissen: Wie geht es weiter? Lohnt sich eine Niederlassung noch?“
Dabei geht es nicht nur ums Finanzielle. „Viele HIV-Schwerpunktpraxen bieten eine einzigartige Mischung aus hausärztlicher Versorgung und Fachspezialisierung, die viele junge Ärztinnen und Ärzte sehr attraktiv finden – doch aktuell ist nicht sicher, ob dieses System eine Zukunft hat“, sagt Karcher.
Wie geht‘s weiter?
Der Hintergrund: Niedergelassene HIV-Schwerpunktmediziner:innen sind in Deutschland in den meisten Fällen entweder Allgemeinmediziner:innen oder Internist:innen, etwa die Hälfte trägt nach 12-monatiger Weiterbildung die Zusatzbezeichnung Infektiologin oder Infektiologe – fast alle bieten neben der HIV-Versorgung auch infektiologische Leistungen an, etwa die Behandlung von Hepatitis B und C und anderen sexuell übertragbaren Infektionen. Neu ist jedoch, dass in Deutschland neben der Zusatzbezeichnung nun ein Facharzt für Infektiologie eingeführt wird, mit 72-monatiger Ausbildung. Die dagnä begrüßt diesen Schritt ausdrücklich – kritisiert aber, dass die ambulante Versorgung dabei nicht mitgedacht wurde. Daraus können sich laut Karcher bedenkliche Szenarien für die Niedergelassenen ergeben.
Anreize schaffen!
„Es könnte sein, dass sich die Infektiolog:innen mit Facharztausbildung dann nur mit einer fachärztlichen Praxis, gleichzeitig aber nicht hausärztlich niederlassen können – während niedergelassene Allgemeinmediziner:innen nur noch eingeschränkt infektiologische Leistungen anbieten dürfen“, sagt Karcher. Für das jetzige System der Schwerpunktpraxen mit ihren vielen spezialisierten Kiezpraxen könne das zum Problem werden.
Es sei klar, dass die Politik das Fachpersonal nicht herbeizaubern könne. „Doch sie kann die Anreize liefern, die junge Kolleg:innen für eine Niederlassung brauchen.“ Die bewährten Versorgungsstrukturen müssen erhalten bleiben, inklusive einer angemessenen Vergütung.
Gleichzeitig müsse der neue Facharzt-titel „Infektiologie“ unbedingt in die ambulante Versorgung eingebettet werden. „Nur so wissen unsere Nachfolger:innen, woran sie sind“, sagt Karcher.