Deutsche Aidshilfe
Bleiben Sie weiterhin unbequem!
Autor: Holger Wicht, Deutsche Aids-Hilfe
Mit dem Segen von Angela Merkel und der aktuellen Regierung steigt Deutschlands große NGO im Bereich HIV/STI und Menschenrechte der Politik immer wieder auf die Füße. Zugleich ist sie seit 40 Jahren vom Staat mit der Prävention für besonders bedrohte Gruppen betraut. In Deutschland ist die Selbsthilfe ein fester Bestandteil der erfolgreichen HIV-Response.
Auf der Internationalen AIDS-Konferenz in Durban 2016 trug sich eine Szene zu, die Teilnehmer*innen aus vielen Ländern verwundert haben dürfte. Auf der Bühne standen gemeinsam die für HIV zuständige Referatsleitung des deutschen Bundesgesundheitsministeriums, Ines Perea, und Silke Klumb, die Geschäftsführerin der Deutschen Aidshilfe (DAH), Deutschland größter NGO im HIV-Bereich. Gemeinsam erklärten die beiden dem internationalen Publikum die deutsche Strategie gegen HIV, Hepatitis und andere sexuell übertragbare Infektionen. Und dann betonte die Führungskraft des Ministeriums, vor ein paar Tagen habe die Deutsche Aidshilfe noch vor eben diesem demonstriert. Was die Zusammenarbeit nicht trübe. Sondern ein wichtiger Teil davon sei.
Tatsächlich lässt sich das deutsche Modell der Präventionsarbeit kaum besser auf den Punkt bringen als durch diesen Moment.
Kampfeslust und Kooperation im Doppelpack
Die Demonstration damals forderte einen geregelten Zugang zur medizinischen Versorgung für Menschen ohne Aufenthaltspapiere – eine bis heute unerfüllte Forderung der Deutschen Aidshilfe an die Politik. Es lag nahe, sie anlässlich der Welt-Aids-Konferenz erneut an die Öffentlichkeit zu tragen, lautete das Motto in Durban doch: „Access Equity Rights Now“ (auf Deutsch etwa: „Zugangsgerechtigkeit jetzt!“). Und die Deutsche Aidshilfe hat politische Forderungen an den Staat immer klar formuliert – während sie zugleich mit staatlicher Förderung die Prävention für die besonders stark betroffenen Gruppen verantwortet.
Dieses Modell – Kampfeslust und Kooperation im Doppelpack – ist in Deutschland mittlerweile über 40 Jahre die Basis der Erfolge der HIV-Prävention. In der Politik ist das bekannt und akzeptiert. Beim Fest zum runden Geburtstag im letzten Herbst zitierte eine Staatssekretärin der Sozialdemokraten, Sabine Dittmar, die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, die beim 25. Jubiläum gesagt hatte: „Bleiben Sie weiterhin unbequem!“
Selbsthilfe gegen Aids von Anfang an
Rückblende: Als Anfang der 80er Jahre Aids über die Welt kam, waren zunächst vor allem schwule Männer betroffen, bald auch andere marginalisiserte Gruppen wie intravenös Drogen konsumierende Menschen.
Schon 1983, noch bevor Aids in Deutschland ganz angekommen war, gründete sich die „Deutsche A.I.D.S.-Hilfe“ als Selbsthilfemaßnahme – sozusagen präventiv und in weiser Voraussicht bezüglich des Ausmaßes der nahenden Katastrophe Das Ziel: Informationen beschaffen und weitergeben. Kranke unterstützen. Sterben und Trauer begleiten. Niemanden alleine lassen. Die Sexualität retten. Kurz: Der neue Verein sollte ein Leben in der Katastrophe möglich machen.
Die deutsche Aids-Bewegung verstand sich schnell als „Allianz der Schmuddelkinder“ und machte der Politik Druck: Das Problem sollte ernstgenommen, zugleich Ausgrenzung und Stigmatisierung entgegengetreten werden. Es war die Zeit der „Die-Ins“ in Innenstädten, Aktivist*innen warfen Spritzen über Gefängnismauern.
Eine Politik gegen Ausgrenzung
Bild 1 Ehemalige Gesundheitsministerin Rita Süssmuth
In der deutschen Politik entbrannte ein Konflikt, den der Filmemacher Jobst Knigge 30 Jahre unter dem Titel „Der AIDS-Krieg“ in einem Dokumentarfilm nachzeichnete. Während Konservative, allen voran der bayerische Staatssekretär Peter Gauweiler, eine herabwürdigende, repressive Linie gegen betroffene Gruppen propagierten, kämpften liberale Kräfte für einen menschlichen Umgang mit der neuen todbringenden Krankheit. Es war vor allem die selbst konservative Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth, die die Weichen stellte in Richtung des partizipativen Modells, das heute so erfolgreich ist. Eine Politik der Ausgrenzung sei für sie als Christin nicht in Frage gekommen, erklärte sie später einmal. Zugleich hatte sie mit Siegfried Rudolf Dunde einen offen schwulen Referenten und Berater in ihrem engsten Team – und hörte ihm zu. Ihm und der jungen Aids-Bewegung.
Schon 1985, unter ihrem Vorgänger Heiner Geissler – ebenfalls ein progressiver Konservativer – erhielt die Deutsche Aidshilfe von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ihren ersten Förderbescheid über damals knapp 30.000 Mark. Von dem Geld wurde die Broschüre „AIDS – Heutiger Wissensstand“ gedruckt. Das erste Plakat, ebenfalls aus dem Jahr 1985 zeigte die nackten Oberkörper zweier Männer, die einander an der Hüfte hielten. Botschaft: „Sicher besser – Safer Sex.“
Bild 2 1985 - erstes Plakat der Deutschen Aidshilfe
Damit setzte sich die entscheidende Idee durch: Die Prävention für die marginalisierten Gruppen muss aus der Selbsthilfe kommen,weil nur die Menschen, um die es geht, wissen worum es geht, die richtige Sprache sprechen, glaubwürdig sind. Es entstand die Arbeitsteilung und Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen, vor allem der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die sich vor allem an die breite Bevölkerung richtet.
Heute erhält die Deutsche Aidshilfe jährlich rund 6 Millionen Euro Förderung aus dem Bundeshaushalt. Damit betreibt sie Prävention für die am stärksten bedrohten und betroffenen Gruppen: Für Männer, die Sex mit Männern haben. Für intravenös Drogen konsumierende Menschen. Für Menschen in Haft. Für Menschen in der Sexarbeit. Für Menschen aus Ländern, in denen HIV häufig ist. Und natürlich setzt sie sich für die Rechte und Interessen von Menschen mit HIV ein.
Die Deutsche Aidshilfe ist dabei über die Jahre zur Spezialistin geworden für zielgruppenspezifische, partizipative Präventionsarbeit. #PutPeopleFirst, das Motto der Internationalen AIDS-Konferenz in München, hätte schon immer auch ihr Motto sein können. Die Orientierung an den Menschen, um die es geht, war immer ihr oberstes Gebot. Dies drückt sich aus in ihren Konzepten von zielgruppenspezifischer Prävention, von Partizipation sowie von Empowerment.
Bild 3 – Partizipation und Empowerment durch Zusammenarbeit
Im Ergebnis erhalten etwa schwule Männer deftige Informationen zum Beispiel auf CSDs und an Sex-Orten, Migrant*innen aus Afrika werden unter anderem über ihre Kirchengemeinden angesprochen – auf eine Weise, die ankommt.
„Mehr als du denkst“
Die Deutsche Aidshilfe und ihre Mitgliedsorganisationen wurzeln dabei in der Selbsthilfe und geben Selbsthilfe zugleich den Raum, den sie braucht, um Wirkung entfalten zu können. Zum Beispiel bei Europas größter Konferenz zum Leben mit HIV, den Positiven Begegnungen, oder in den assoziierten Netzwerken wie „Frauen und HIV“, „Positiv und hetero“ oder „AfroLeben+“.
Aus ihrer Verwurzelung in den von HIV betroffenen Gruppen ist mittlerweile eine Expertise geworden, die weit über HIV und andere Infektionen hinausgeht. So erforschte die DAH kürzlich im Rahmen von staatlich finanzierten Modellprojekten die gesundheitlichen Bedarfe von Sexarbeiter*innen ebenso wie Versorgungslücken bei trans- und nicht-binären Menschen. Sie erarbeitete ein Schulungsprogramm, das Erst-Helfende für Drogennotfälle mit dem Medikament Naloxon fit macht und erforschte, wie weit deutschem Straßenheroin bereits das Opiat Fentanyl beigemengt wird. Die Forschungsprojekte sind dabei stets partizipativ gestaltet und beziehen etwa Peer-Forschende ein.
Durch ihre Geschichte ist die Deutsche Aidshilfe zugleich zur Sexpert*in geworden. Zum Angebot gehört neuerdings auch eine Ausbildung für "Lebensweltorientierte Sexualberatung". Viele der 115 Mitgliedsorganisationen des Dachverbands sind sexualpädagogisch tätig, zum Beispiel in Schulen.
„Was in der Aidskrise als Notfallmaßnahme der Selbsthilfe und politische Notwehr begann, ist heute eine starke Bewegung und ein vielfältiger Fachverband. Aidshilfe ist eine wichtige Säule in der deutschen Präventionslandschaft, setzt sich gegen Diskriminierung und für Menschenrechte ein“, fasst Ulf Kristal vom Vorstand der Deutschen Aidshilfe zusammen.
Bild 4 – Die Deutsche Aidshilfe feierte 2023 ihren 40. Geburtstag
Das Motto des 40. Geburtstages lautete dementsprechend: „40 Jahre Deutsche Aidshilfe. Mehr als du denkst!“
Politik gehört dazu
Das eingangs erwähnte politische Engagement gehörte dabei immer fest zum Programm. Das Konzept der Strukturellen Prävention fußt auf der Einsicht: Gesundheit hängt von gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Aidshilfe-Arbeit hat immer bedeutet, sich für Emanzipation einzusetzen, Ausgrenzung zu bekämpfen, Benachteiligung zu beseitigen. Zugleich schafft sie Angebote, die Menschen stark machen und zum Schutz ihrer Gesundheit befähigen.
DAH bei AIDS2024
Bild 5 Aktivist*innen aus der Ukraine in Deutschland
Bei der Welt-Aids-Konferenz in München unter dem Motto #PutPeopleFirst wird sich dementsprechend das volle Programm spiegeln. Unter dem Titel „From Germany with Love: Together for Diversity, Justice and Health!” trifft sich die in Deutschland lebende Community im Global Village der Konferenz zu Austausch und Vernetzung. Am deutschen Stand, wo wir gemeinsam mit staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren aktiv sind, präsentieren wir ausgewählte Projekte zu unseren Kernkompetenzen: zielgruppenspezifische Prävention, Partizipation und Selbsthilfe.
Und nicht zuletzt werden wir nicht umhinkommen, auch in München wieder mit politischen Botschaften an die Öffentlichkeit zu treten. Bayern war der Hort restriktiver Aids-Politik in den 80ern – und es ist eines der Bundesländer, in denen es bis heute keine Drogenkonsumräume gibt. Und eine reguläre medizinische Versorgung für Menschen ohne Aufenthaltspapiere oder Krankenversicherung gibt es im dritten Jahr der aktuellen Regierung immer noch nicht – obwohl die Lösung im Koalitionsvertrag versprochen wurde.
Wenn Deutschland sich bei der 25. Internationalen Aids-Konferenz fortschrittlich zeigt, werden wir daher erneut beides tun: Der Welt präsentieren, worauf wir stolz sein können, und die Versorgungslücken im eigenen Land offenlegen.
Angela Merkel hat uns schließlich ausdrücklich dazu aufgefordert. Und außerdem können wir gar nicht anders.