Der Einfluss von regionaler sozioökonomischer Deprivation auf den Zeitpunktpunkt der HIV-Diagnose
Abb. 1 German Index of Socioeconomic Deprivation (Kroll et al., 20171). Dargestellt ist die regionale sozioökonomische Deprivation auf der Ebene der kreisfreien Städte und Landkreise. Je dunkler der Blauton, desto höher die durchschnittliche sozioökonomische Deprivation der Bevölkerung in der Region.
In den letzten Jahren wurde etwa die Hälfte aller HIV-Infektionen in Deutschland in einem fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert und rund 15% hatten zum Zeitpunkt ihrer Diagnose bereits eine AIDS-definierende Erkrankung entwickelt. Sowohl auf individueller als auch auf Populationsebene sind späte Diagnosen problematisch, da sie nicht nur mit schlechteren gesundheitlichen Verläufen für die betroffenen Personen einhergehen, sondern diese ihre Infektion unwissentlich weitergeben können. Späte Diagnosestellungen tragen somit maßgeblich zum Fortbestehen der HIV-Epidemie bei.
Die Rolle des sozioökonomischen Status
Um die Zahl der HIV-Spätdiagnosen in Deutschland erfolgreich reduzieren zu können, ist ein besseres Verständnis der verschiedenen Einflussfaktoren, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, notwendig. Ein Faktor der im Bereich der Gesundheitswissenschaften bereits gut erforscht ist, ist der sozioökonomische Status. Dieser umfasst Merkmale sozialer Lebensumstände wie Bildung, Einkommen und Beruf. Aus der Gesundheitsforschung ist bekannt, dass ein niedriger sozioökonomischer Status mit schlechteren gesundheitlichen Folgen einhergeht, wie zum Beispiel einem höheren Risiko für chronische Erkrankungen oder einer niedrigeren Lebenserwartung. Im Hinblick auf HIV/AIDS gibt es vor allem aus den USA einige Studien die gezeigt haben, dass Personen mit geringeren sozioökonomischen Ressourcen ein höheres Risiko für eine HIV-Infektion sowie ein erhöhtes Sterblichkeitsrisiko haben. In Deutschland ist dieser Zusammenhang bisher jedoch noch wenig erforscht. Das Ziel der durchgeführten Studie war es deshalb für den deutschen Kontext zu untersuchen, ob soziale Ungleichheiten einen Einfluss auf den Zeitpunkt der HIV-Diagnosestellung haben. Basierend auf den Ergebnissen können die Entwicklung gezielter Maßnahmen zur Förderung der HIV-Testung unterstützt werden.
„Surveillance von HIV-Neudiagnosen in Deutschland“ (InzSurv-HIV) und der„Sozioökonomische Deprivationsindex für Deutschland“ (GISD)
Für
die Studie wurden die Daten der am RKI als Routineaufgabe
durchgeführten InzSurv-HIV-Studie als Grundlage genommen. Im Rahmen
dieser Studie senden
teilnehmende Labore Restblut neu diagnostizierter HIV-
Infektionen
ans RKI, welche auf die Rezenz der HIV-Infektion untersucht werden.
Hier wird bestimmt, ob es sich um rezente, also kürzlich erworbene
Infektionen (ca. 5-monatige Infektionsdauer) oder länger bestehende
Infektionen handelt. Die Testergebnisse
werden den gesetzlichen HIV-Meldungen
zugeordnet, in denen weitere soziodemographische sowie klinische
Daten dokumentiert sind.
Da in den HIV-Meldedaten keine Informationen zum sozioökonomischen Hintergrund der Patient*innen angegeben werden, wurde für die aktuelle Studie der am RKI entwickelte sozio-ökonomische Deprivationsindex für Deutschland (GISD) genutzt. Dieser basiert auf Indikatoren der Dimensionen Beruf, Bildung und Einkommen und bildet mithilfe errechneter Durchschnitts-Scores die sozioökonomische Deprivation auf Basis der kreisfreien Städte und Landkreise in Deutschland ab. Diese sind eingeteilt in Regionen mit hoher, mittlerer sowie niedriger Deprivation (siehe Abb. 1). Eine hohe regionale sozioökomische Deprivation bedeutet, dass Personen die in dieser Region leben im Schnitt einen niedrigen sozioökonomischen Status haben und in sozial schwächeren Verhältnissen leben.
Für die aktuelle Studie wurden die HIV-Daten von 2011 bis 2018 mit den GISD-Daten auf Basis der 3-stelligen Postleitzahl zusammengeführt und allen Patient*innen die jeweilige Deprivationskategorie des Wohnorts zugeordnet. Der Zeitpunkt der HIV-Diagnosestellung wurde analysiert basierend auf nicht-rezenten Infektionen sowie dem Vorhandensein einer oder mehrerer AIDS-definierender Erkrankungen zum Zeitpunkt der Diagnose.
Hohe sozioökonomische Deprivation – höherer Anteil an späten Diagnosen?
Abb. 2 Anteile der nicht-rezenten HIV-Infektionen zum Zeitpunkt der Diagnose bei Männern die Sex mit Männern haben (MSM) vs. Personen mit heterosexuellem Kontakt (HET)
Abb. 3 Anteile der HIV-Infektionen die im AIDS-Stadium diagnostiziert wurden bei Männern die Sex mit Männern haben (MSM) vs. Personen mit heterosexuellem Kontakt (HET)
Die Ergebnisse der Analysen haben insgesamt gezeigt, dass Personen die in sozial schwächeren Regionen leben öfter länger bestehende Infektionen zum Zeitpunkt ihrer Diagnose hatten sowie auch öfter bereits AIDS-definierende Erkrankungen entwickelt hatten. Wurden die Haupt-Transmissionsgruppen jedoch einzeln betrachtet, so haben sich Unterschiede im Einfluss der sozioökonomischen Deprivation gezeigt. Der Anteil an späten Diagnosen war bei Personen die sich auf dem heterosexuellem Übertragungsweg infiziert haben generell höher als bei Männern die Sex mit Männern haben (MSM). Während MSM vor allem in Regionen mit hoher soziökonomischer Deprivation, insbesondere im ländlichen Raum, ein höheres Risiko hatten in fortgeschrittenen Stadien diagnostiziert zu werden, zeigte sich dieser Einfluss von sozioökonomischen Faktoren bei heterosexuellen Personen jedoch nicht. Bei ihnen wurden unabhängig von sozialen Ungleichheiten hohe Anteile an nicht-rezenten Infektionen als auch Infektionen im AIDS-Stadium beobachtet (Abb. 2 und 3).
Eine mögliche Erklärung hierfür könnte das unterschiedliche Gesundheitsverhalten dieser beiden Transmissionsgruppen im Hinblick auf HIV liefern. Da HIV-Präventionskampagnen sowie Teststrategien in Deutschland traditionell einen stärkeren Fokus auf MSM hatten, ist bei ihnen das Risikobewusstsein sowie Wissen über HIV deutlich stärker ausgeprägt als bei heterosexuellen Personen. Ein geringerer Bildungs- oder Einkommensstatus kann sich bei MSM somit auf den Zeitpunkt der HIV-Diagnose auswirken. Bei heterosexuellen Personen könnten ein fehlendes Risikobewusstsein sowie möglicherweise auch eine größere Angst vor Diskriminierung einen stärkeren Einfluss auf den Zeitpunkt der Diagnosestellung haben. Diese Faktoren sind in allen sozialen Schichten vorhanden. Aus früheren Studien ist auch bekannt, dass ein niedriges Risikobewusstsein allerdings nicht nur auf Seiten der Patient*innen, sondern auch auf der der Ärzteschaft im Hinblick auf die heterosexuelle Transmissionsgruppe vorhanden ist und bei ihnen oftmals bestimmte Symptome nicht als HIV-Indikatoren erkannt werden.
Handlungsempfehlungen zur Reduzierung von HIV-Spätdiagnosen
Die Ergebnisse der Studie haben gezeigt, dass je nach Übertragungsweg ein differenzierter Ansatz gebraucht wird, um die Zahl der späten HIV-Diagnosestellungen zu reduzieren. Bei heterosexuellen Personen ist es wichtig, dass unabhängig vom sozialen Status weiter das generelle Wissen sowie das Bewusstsein für eine mögliche HIV-Infektion gesteigert werden. Dies ist auch auf Seiten der Ärzteschaft wesentlich. Bei den MSM auf der anderen Seite empfiehlt es sich, soziale Ungleichheiten zu beachten und bei ihnen den Fokus auf Personen in sozial schwächeren Regionen zu legen, vor allem im ländlichen Raum. In diesen Regionen könnte beispielsweise der Ausbau von HIV-Schwerpunktpraxen oder niedrigschwelligen Testangeboten sowie Checkpoints zur Vernetzung stärker gefördert werden. Diese Risikogruppen besser und schneller zu erreichen und dadurch späte HIV-Diagnosen in Deutschland zu reduzieren ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum Ziel „Ending AIDS“.
1 Kroll LE, Schumann M, Hoebel J, Lampert T. Regionale Unterschiede in der Gesundheit - Entwicklung eines sozioökonomischen Deprivationsindex für Deutschland. J Health Monit. 2017;2(2):103-20.