Islatravir – Studien gestoppt Hintergrund und Einschätzung

Mitte Dezember 2021 hat die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA die klinischen Studien mit Islatravir (MK-8591) ausgesetzt. Was waren die Gründe und wie geht es weiter?

Translocation Inhibition

Der „Clinical Hold“ der Islatravir-Studien erfolgte aufgrund eines Rückgangs der Gesamtzahl der Lymphozyten und CD4-Zellen bei einigen Teilnehmern, die Islatravir erhielten.

Das NRTTI (nukleosidischer Reverse-Transkriptase-Translokations-Inhibitor) Islatravir (ISL) von MSD ist eine Substanz mit neuartigem Wirkmechanismus und fehlender Kreuzresistenz zu anderen NRTI. Sie wurde/wird untersucht als Tablette zur täglichen Gabe (allein und in Fixkombination mit Doravirin), als Tablette zur monatlichen Gabe, als langwirksame Injektion und als Implantat zur Behandlung und Prophylaxe einer HIV-Infektion.

Probanden, die Islatravir im Rahmen der PrEP-Studien erhielten, einschließlich oraler, injizierbarer und implantierbarer Formulierungen zur Behandlung und Prophylaxe, werden das Prüfpräparat nicht mehr erhalten. Die CD4-Zellen und die Gesamtlymphozytenzahl werden so lange überwacht, bis sich diese Werte wieder normalisiert haben (vollständiger Clinical Hold).

Probanden der DOR/ISL-Studien, die mit einer Behandlung begonnen haben, erhalten weiterhin das Prüfpräparat (partieller Clinical Hold), es werden aber keine neuen Teilnehmer in DOR/ISL-Studien für die Behandlung untersucht oder randomisiert. Aufgrund des Clinical Holds durch die FDA dürfen keine neuen Studien starten.

Darüber hinaus haben Gilead und MSD beschlossen, die Verabreichung an alle Teilnehmer der klinischen Phase-2-Studie (NCT05052996) zu stoppen, in der eine orale, wöchentliche Kombinationsbehandlung von Islatravir (MSD) und Lenacapavir (Gilead) bei Menschen mit HIV untersucht wird, die unter einer antiretroviralen Therapie virussupprimiert sind. Gemäß dieser Entscheidung werden die Teilnehmer in beiden Behandlungsgruppen die Einnahme des Prüfpräparates beenden und ihre vorherige antiretrovirale Therapie wieder aufnehmen. Gleichzeitig prüfen beide Unternehmen, ob eine andere Dosierung von Islatravir in Kombination mit Lenacapavir eine einmal wöchentlich oral einzunehmende Therapieoption für Menschen mit HIV darstellen könnte. Gilead und MSD halten an der Zusammenarbeit fest, die darauf abzielt, neue langwirksame Behandlungsoptionen zu entwickeln.



Kommentar Prof. Dr. med. Johannes Bogner, München

Prof. Dr. med. Johannes Bogner Klinik und Poliklinik IV Klinikum der Universität München, MünchenProf. Dr. med. Johannes Bogner

Klinik und Poliklinik IV

Klinikum der Universität München, München


Persönliche Einschätzung

Unser Studienzentrum nimmt an 2 Studien teil, in denen Islatravir eingesetzt wird. Wir haben also seit etwa 2 Jahren Erfahrung mit der Substanz. Da es sich bei beiden Studien um doppelblinde randomisierte Studien handelt, wissen wir natürlich nicht, welche unserer Patienten mit Islatravir behandelt werden und welche mit dem entsprechenden Placebo. Wir können aber davon ausgehen, dass ungefähr die Hälfte unserer Studienpatienten Islatravir bekommt.

Bislang liefen beide Studien aus meiner Sicht gut und erfolgreich. Die subjektive Verträglichkeit wie auch die Wirkung auf die Viruslast schätze ich als günstig ein. Das Therapieziel der nicht nachweisbaren Viruslast wurde erreicht. Umso überraschender war für uns die Mitteilung, dass es bezüglich der CD4-Lymphozyten zu einem Nebenwirkungs-Signal gekommen ist, das die in der Pressemitteilung genannten Auswirkungen bezüglich der Rekrutierung hat. Wir können also in der Studie für therapienaive keine neuen Patienten einschließen.

Die Betrachtung der CD4 Zell-Zahlen zeigt, dass es – wenn überhaupt – zu einer sehr geringen Reduktion der CD4-Zellen bei einigen Probanden*innen gekommen ist (vorbehaltlich, dass diese in der Placebogruppe sind). Virologisches Therapieversagen scheint mit dem Effekt auf die Lymphozyten nicht assoziiert zu sein. Offenbar handelt es sich um getrennte Mechanismen – die virologische Effektivität steht hier also nicht zur Debatte.

Bei bisherigen Therapiestudien wurde in der Regel sowohl in der Placebogruppe wie auch in der Verumgruppe im Durchschnitt eine Zunahme der CD4-Zellen beobachtet, sofern es sich um Studien an therapienaiven Patient*innen handelte. Bei Switch-Studien ist der übliche Standard, dass es zu einem Gleichbleiben der CD4-Zellen kommt. Neu wäre ein – wenn auch reversibler – vorübergehender Abfall der Gesamt-Lymphozyten beziehungsweise CD4-Lymphozyten.

Wenn man über den möglichen Wirkmechanismus nachdenkt, kommt mir Folgendes in den Sinn: Das erste
Nukleosid-Analogon, das bei HIV jemals zum Einsatz kam, war Azidothymidin (Zidovudin/Retrovir®). Dieses Medikament wurde nicht ursprünglich als Virustatikum entwickelt und eingesetzt, sondern schon lang vor seinem Einsatz als Virustatikum wurde es eigentlich als ein Medikament entwickelt, das eine zytostatische Wirkung entfalten kann. Die Zielrichtung war die Therapie von lymphozytären Neoplasien, zum Beispiel der chronisch lymphatischen Leukämie CLL. Da es hierfür nicht geeignet war, verschwand die Substanz erst einmal in der Schublade.

Ein Medikament mit sehr hoher Bindungs-Affinität und therapeutischer Effektivität ist durch Wirksamkeit bereits bei geringsten Milligramm-Dosierungen gekennzeichnet. Dies ist beim Islatravir der Fall. Islatravir wird im Rahmen der Studien in einer Dosis von z.B. 2,25 mg/Tag eingesetzt und hat eine besonders lange Halbwertszeit. Denkbar ist es also, dass die Substanz in Lymphozyten akkumuliert und einen Kollateral-Effekt auf die Lymphoproliferativeration und damit die Lymphozyten-Regeneration ausübt.

Es ist ebenfalls sehr gut denkbar, dass es sich um einen dosisabhängigen voll reversiblen Effekt handelt, der klinisch keinerlei Bedeutung haben muss. Wenn wir auf andere Effekte von antiretroviralen Medikamenten blicken, so können wir feststellen, dass bestimmte Laborwert-Veränderungen nicht dazu geführt haben, dass Medikamente nicht eingesetzt werden: Beispiele hierfür sind die Erhöhung des mittleren korpuskulären Volumens beim Einsatz von Zidovudin, die Erhöhung des Kreatininwerts beim Einsatz von einigen dafür bekannten Integraseinhibitoren oder auch die Erhöhung des Bilirubinwertes beim Einsatz von bestimmten Proteasehemmern. All diese Effekte haben nicht dazu geführt, dass die Substanzen nicht weiterentwickelt wurden oder nicht in der Klinik eingesetzt werden, wo sie gebraucht werden. Es könnte also sehr leicht zu verantworten sein, dass ein beispielsweise vorübergehender Lymphozyten-senkender Effekt in Kauf genommen werden kann. Eventuell werden sogar erwünschte Effekte erreicht, wie z.B. die Unterdrückung der residuellen Immunaktivierung, die man bei effektiv behandelten HIV-Patient*innen immer wieder antrifft und die als ungünstig bewertet wird.

Aus meiner Sicht wäre es sehr schade, wenn hier vorschnell die Entwicklung eines wichtigen und segensreichen Medikaments ins Stocken gerät oder im schlimmsten Fall sogar zu einem Stopp kommt.


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